Die Gedenkstätte Berliner Mauer
5. Juni 2014Vor einem Stück Betonmauer an der Bernauer Straße steht eine junge Frau und posiert. Ihre Freundin geht vor ihr in die Hocke und macht mit ihrem Smartphone Fotos - eins nach dem anderen. Gemeinsam schauen sie sich die Bilder an und fangen an zu lachen. Ein paar Meter weiter ist die Wand zu Ende. Eine Reihe senkrechter Stahlrohre mit Abständen dazwischen setzt ihren Verlauf fort. Zwei kleine Jungen machen sich einen Spaß daraus, zwischen ihnen hin und her zu springen, vom Bürgersteig auf der einen zur Rasenfläche auf der anderen Seite, immer wieder.
Heute herrscht an der Bernauer Straße in Berlin-Mitte ein friedliches Bild. Das war nicht immer so. Bis vor 25 Jahren war dieser Ort Teil der 160 Kilometer langen Grenze rund um Westberlin. Meterhohe Betonmauern, Wachtürme und Panzersperren sollten jeden Fluchtversuch von Ost nach West verhindern. Wer es dennoch versuchte, riskierte, von den Grenzposten der DDR erschossen zu werden.
Künstlerische Verwandlung des Todesstreifens
Ein Stelenfeld, undurchdringliche Mauersegmente und offene Rohrkonstruktionen aus rostigem Stahl erinnern heute daran. Sie sind Teil der Gedenkstätte Berliner Mauer, die an die Teilung der Stadt und die mindestens 137 Menschen erinnert, die auf dem Todesstreifen zwischen Ost- und Westberlin ihr Leben verloren.
Die Rohrkonstruktionen, die auf etwa einem Kilometer den ehemaligen Grenzverlauf entlang des Bürgersteigs markieren, findet Joachim Rudolph unmöglich. "Symbolik und künstlerische Gesichtspunkte müssen berücksichtigt werden. Aber das entspricht absolut nicht der Realität von damals", sagt er bestimmt.
"Ich habe Fluchttunnel gegraben."
Der 76-Jährige kennt die Bernauer Straße gut. 1961, im Jahr des Mauerbaus, flüchtete er über die damals noch wenig befestigte Grenze im Tegeler Fließ nach West-Berlin. Hier schloss er sich einer Gruppe von Studenten an, die die Grenzanlagen an der Bernauer Straße untertunneln und Freunde aus dem Osten nach West-Berlin holen wollten. Er überlegte nicht lange, ob er das Risiko eingehen sollte. "Für uns stand damals fest. Fluchthilfe ja, Tunnelbau erst recht!" 29 Menschen konnten durch den Tunnel in den Westen kriechen, ehe er einen Tag später mit Wasser volllief.
Die Studenten waren nicht die einzigen, die hier Fluchttunnel gruben. Auf dem Gelände der Gedenkstätte kennzeichnen Bodenplatten beispielhaft die Streckenverläufe von zwei anderen Fluchttunneln. Rudolphs unsichtbare Geschichte wird hier besonders plastisch. Er, der lange Zeit nichts mehr mit der Mauer zu tun haben wollte, engagiert sich heute als Zeitzeuge und spricht über seine Erfahrungen mit der DDR, Flucht und Fluchthilfe.
Das Gedenkstättenkonzept
Die Touristen begegnen dem Ort unvoreingenommener. Auf der Grünfläche des Gedenkstättenareals tummeln sich mittlerweile Familien aus Asien genauso wie australische Backpacker. Eine 20-köpfige Rentnergruppe aus Süddeutschland hat sich auf dem Rasen um einen Guide geschart und hört ihm aufmerksam zu. Andere studieren auf Stelen angebrachte Texte zu Mauerbau und deutscher Teilung, während ein Tourist mit roter Baseball-Mütze einen Knopf drückt: "Mit Verrätern muss man sehr ernst sprechen", tönt aus dem Lautsprecher die blecherne Stimme des SED-Funktionärs Albert Norden, der 1963 den Schießbefehl an der Grenze rechtfertigte: "An der Nahtstelle zwischen Ost und West muss man sehr entschieden handeln."
Eine solche "Nahtstelle" steht im Zentrum der Gedenkstätte: ein 70 Meter langer, nachgebauter Abschnitt des Todesstreifens. Ein Patrouillenweg durchquert die Sandfläche zwischen der Beton- und Hinterlandmauer, den Abschnitt überragt ein bedrohlich wirkender Wachturm. Von dort oben hatte der Posten freies Schussfeld über den Streifen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite drängen sich spanische und holländische Touristen auf einer Aussichtsplattform, um von oben einen Blick auf das gesperrte Areal zu erhalten. Die Aussichtsplattform, von der die Touristen auf den Mauerstreifen blicken, gehört zum Dokumentationszentrum der Gedenkstätte. Momentan bestimmen hier Bauarbeiten das Bild. Das Gebäude wird saniert und soll am 25. Jahrestag des Mauerfalls wiedereröffnet werden.
Den Mauertoten ihre Namen zurückgeben
Wie vielfältig das Gedenken an der Bernauer Straße ist, wird in der modernen Kapelle gleich neben dem rekonstruierten Mauerstreifen deutlich. Der Vorgängerbau, die Versöhnungskirche, lag ab 1961 unerreichbar für Gemeindemitglieder aus Ost und West im Todesstreifen und wurde 1985 gesprengt. Es ist Mittag, als Hans Giessler eine Klappe auf der Rückseite des Altars öffnet und ein Buch herausnimmt. Seit 2005 halten Ehrenamtliche wie er Andachten für die Mauertoten ab. Manchmal sind es auch Angehörige der Verstorbenen.
Giessler schlägt das Buch auf und beginnt zu lesen. Es ist die Geschichte von Johannes Sprenger. DDR-Grenzsoldaten hatten den Flüchtenden in der Nacht zum 9. Mai 1974 zwischen Hinterland- und Signalzaun bemerkt. Sie befahlen dem 68-Jährigen stehen zu bleiben. Als er in einen Lichtkegel der Grenzbeleuchtung geriet, legte der Posten an und erschoss Sprenger kaltblütig.
Hans Giessler hört auf zu lesen und tritt hinter dem Altar hervor: "Ich entzünde diese Kerze für Johannes Sprenger." Mit langsamen Schritten geht er hinüber zu einem alten Kreuz, das in einer Aussparung an der Wand hängt. Davor steht eine Schale mit Sand. Er steckt die brennende Kerze hinein, verbeugt sich und hält inne. Nach einem kurzen Gebet öffnen sich die Türen der Kapelle wieder, Luft und Sonnenstrahlen strömen herein. Und mit ihnen die nächsten Touristen.