Referendum in Russland: Was stimmt nicht?
1. Juli 2020Wegen der Corona-Pandemie hat die Abstimmung über die Verfassungsänderungen in Russland eine ganze Woche gedauert, vom 25. Juni bis zum 1. Juli. Diesen Präzedenzfall hatte die russische Zentrale Wahlkommission durch eine Sonderregelung ermöglicht. Menschenrechtsaktivisten hatten befürchtet, dass die neuen Abstimmungsmöglichkeiten eine Fälschung und Manipulation der Ergebnisse erleichtern. Das hat sich bereits teilweise bestätigt.
Regierung setzte auf möglichst frühe Stimmabgabe
In den ersten Tagen der Wahlwoche machten fast 30 Prozent aller stimmberechtigten Russen ihr Kreuzchen, überwiegend zu Hause und in Wahllokalen, so die offiziellen Angaben der Zentralen Wahlkommission. In Russland ist generell eine Abstimmung in der eigenen Wohnung möglich - dann kommt ein Mitglied der Wahlkommission samt Wahlurne zu dem Wähler nach Hause. Außerdem wurden überall provisorische mobile Wahllokale aufgebaut - auf einem Baumstumpf, in Bussen oder Faltzelten.
Die Teilnahme an der Online-Abstimmung war mit rund 60 Prozent doppelt so hoch, sie fand allerdings nur in Moskau und im Gebiet Nischni Nowgorod statt.
"Es war offensichtlich, dass ein bedeutender Teil der Wähler von den jeweiligen Arbeitgebern gezwungen wurde, ihre Stimme abzugeben. Diese Menschen sind in den ersten Tagen wählen gegangen", so der Soziologe Grigorij Judin, einer der Organisatoren von unabhängigen Wählerumfragen, im DW-Interview.
Die einwöchige Abstimmung hatte man angesetzt, um große Menschenansammlungen zu vermeiden. Die Leiterin der Zentralen Wahlkommission, Ella Pamfilowa, versprach vor der Abstimmung, dass in einem Wahllokal nur acht bis 12 Personen pro Stunde abstimmen würden, also maximal 150 Personen pro Tag.
"Das ist äußerst wenig. Offenbar setzt man auf eine Stimmabgabe vor dem eigentlichen Tag der Abstimmung", sagte Grigorij Melkonjanz vom Verband zum Schutz der Rechte von Wählern (Golos) der DW. Ihm zufolge ist es unter diesen Umständen unmöglich, gründlich zu kontrollieren, wie viele Wähler ein Wahllokal oder eine improvisierte Möglichkeit der Stimmabgabe aufgesucht haben.
"Ich schließe nicht aus, dass Beobachter einfach nicht erfahren werden, wo in Wirklichkeit die Stimmen abgegeben wurden, und am 1. Juli werden sie die Ergebnisse einfach präsentiert bekommen", hatte der Experte vorab gesagt. Bei der Abstimmung über die Verfassungsänderungen sind unabhängige Beobachter von russischen Nichtregierungsorganisationen zugelassen.
Problematische Abstimmung zu Hause
Das neue Verfahren hat auch die Möglichkeiten der Abstimmung zu Hause geändert. Während früher ein wichtiger Grund dafür vorliegen musste (zum Beispiel Krankheit), so stand diese Form der Stimmabgabe nun jedem Wähler offen. Es genügte, die Wahlkommission anzurufen und einen Termin zu vereinbaren. Das kritisieren Menschenrechtsaktivisten, denn das erhöhe die Belastung der Wahlbeobachter erheblich, die eine Wahlurne auf dem Weg zu den Wählern nach Hause unmittelbar begleiten müssen.
Am dritten Tag der Abstimmungswoche hatte Wahlkommissionschefin Pamfilowa das Problem teilweise eingeräumt und ihre Kollegen gebeten, zusätzliche Beobachter hinzuzuziehen: "Wenn Sie sehen, dass es in einem Wahlbezirk zu viele Beobachter gibt und in einem anderen nicht genug, um zu den Wählern nach Hause zu gehen, wenden Sie sich an die Beobachtergemeinschaft, um diesen Prozess zu regeln."
Im Moskauer Stadtteil Ramenka entdeckten Beobachter eine ungewöhnliche hohe Anzahl an Wahlberechtigten, die zu Hause wählten. Am zweiten Wahltag gab dort fast jeder vierte Wähler seine Stimme ab. Allerdings "konnte die Kommission die Stimmzettel derjenigen, die 'gewählt' hatten, nicht vorlegen", so Kirill Trofimov, ein Mitglied der Lokalen Wahlkommission von Ramenka. Die Moskauer Stadtwahlkommission räumte ein, dass das Verfahren nicht korrekt abgelaufen sei und versprach, die Ergebnisse von zwei Wahllokalen zu annullieren.
Vorgedruckte Wählerlisten - manchmal schon mit Unterschrift
Die Beobachter des Wählerrechte-Verbandes Golos hatten im Vorfeld kritisiert, dass eine wichtige Verfahrensregel bei der jetzigen Abstimmung gestrichen sei worden. Und zwar die Bestimmung, dass die Passdaten der Wähler auf den allgemeinen Listen per Hand eingetragen werden müssen. Mit anderen Worten: Früher musste jeder Wähler entweder selbst oder mit Hilfe eines Mitglieds der Kommission mit einem Stift seine Passdaten in eine Spalte eintragen und unterschreiben. Melkonjanz zufolge sei es wahrscheinlich, dass bei der Abstimmung über die Verfassungsänderungen nur noch eine Unterschrift hinterlassen werden muss, während die Passdaten schon vorgedruckt sein werden.
"Es ist ein Traum für Fälscher, die Passdaten der Menschen schon im Voraus zu kennen. Das macht denjenigen das Leben leichter, die die Wahlbeteiligung hochdrehen, da man Einträge für Bürger erstellen kann, die gar nicht wählen gehen. Statt einer Unterschrift können sie irgendeinen Kringel dahin setzen. Versuchen Sie später mal zu beweisen, dass der Wähler nicht richtig unterschrieben hat!", sagt der Experte.
Die Zentrale Wahlkommission sieht keine Probleme
So konnten im Moskauer Wahlbezirk Lefortowo 1403 zwei Ehegatten nicht abstimmen, weil ihre Passdaten und Unterschriften bereits in den allgemeinen Listen der Wähler eingetragen worden waren.
Nach eigenen Angaben hat der Verband zum Schutz der Rechte von Wählern Golos im Zeitraum vom 25. bis 30. Juni insgesamt 1587 Bürgerappelle erhalten. Rund die Hälfte davon habe Hinweise auf verschiedene Verstöße enthalten.
Dagegen habe die Zentrale Wahlkommission während der einwöchigen Abstimmung so gut wie keine ernst zu nehmenden Beschwerden erhalten, die sie berücksichtigen müsse, so der stellvertretende Vorsitzende der Kommission, Nikolai Buljaev.