Raketen für den Heimatschutz
23. Juli 2004George W. Bush bleibt hartnäckig: Noch vor der Präsidentschaftswahl im November sollen die ersten Abfang-Raketen und Radarsysteme der neuen nationalen Raketenabwehr (National Missile Defense) in Kalifornien und Alaska stationiert werden. Der Abwehr feindlicher Langstreckenraketen hat Bush Medienberichten zufolge höchste Priorität eingeräumt - trotz harscher Kritik seitens einiger demokratischer Kongressabgeordneter an den enormen Kosten und generellen Zweifeln an der Realisierbarkeit.
Verteidigung des Heimatlandes
"Die Wahlkampforientierung ist ganz eindeutig", erklärt Regine Hagen von der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Natur, Wissenschaft und Technik der TU Darmstadt im Gespräch mit DW-WORLD. Denn mit dem Thema "Verteidigung des Heimatlandes" kann man in den USA - nicht erst seit dem 11. September 2001 - bei der Bevölkerung punkten. Die Administration hat es dabei derart eilig, dass zur beschleunigten Umsetzung der "National Missile Defense" klassische Regeln der Beschaffung von Waffensystemen ausgesetzt wurden.
Normalerweise gilt das Prinzip "Fly before you buy", also "Teste, bevor du kaufst". Die Waffensysteme werden dabei in realistisch nachgestellten Kampfszenen unter die Lupe genommen. Bisherige Tests des geplanten Abwehrsystems seien aber unter völlig unrealistischen Bedingungen durchgeführt und wichtige einzelne Teile noch nie zusammen erprobt worden, heißt es. Die Vorwürfe kommen nicht nur von demokratischer Seite, sondern auch von der Untersuchungsbehörde des Kongresses (GAO).
Sogar der im Pentagon für die Bewertung von Waffen zuständige Thomas Christie gab im März 2004 bei einer Senatsanhörung zu, dass er sich nicht sicher sei, ob das System tatsächlich Schutz vor einem Raketenangriff bieten werde. Christie räumte auf scharfe Nachfrage ein, dass das System bis jetzt nicht genügend entwickelt sei, "um die in Computermodellen gezeigte hohe Effektivität zu bestätigen". Immer wieder haben Wissenschaftler darauf hingewiesen, dass die Abfangtechnik noch nicht ausgereift genug sei.
Milliarden-Aufträge locken
Den Wunsch nach Unverwundbarkeit gibt es in den USA schon seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das derzeitige von Bush vorangetriebene Abwehr-Programm wurde bereits in der Clinton-Administration ausgearbeitet. Inzwischen wird, nach Pentagon-Schätzungen, die horrende Summe von rund 53 Milliarden Dollar für die Raketenabwehr bis 2009 einkalkuliert.
"Das Interesse der Industrie ist natürlich enorm", sagt Regina Hagen. Zum Beispiel wollen der europäische Luft- und Raumfahrtkonzern EADS und der US-Rüstungskonzern Lockheed Martin beim Bau von Raketenabwehrsystemen kooperieren. Beide Firmen unterzeichneten auf der britischen Luftfahrtschau in Farnborough eine entsprechende Absichtserklärung, nach der sie Partnerschaften in den USA, Europa und weltweit prüfen wollen. Auch die britische BAE Systems und der italienische Alenia Konzern seien an der Kooperation beteiligt. Für die Europäer wäre eine solche Zusammenarbeit mit der US-Industrie ein wichtiger Schritt, um stärker auf dem amerikanischen Rüstungsmarkt Fuß zu fassen. Ausländische Unternehmen haben dort bisher kaum Chancen. Käme das Projekt zustande, dann wären Aufträge in Milliardenhöhe möglich.
Rüstungswettlauf in Asien?
Ausgelotet werden derweil auch die Beziehungen zwischen den Amerikanern und potentiellen politischen Partnern bei der Raketenabwehr. Die Amerikaner sollen seit kurzem unter anderem Verhandlungen mit Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien und Rumänien führen. Geplant ist zum Beispiel der Bau weiterer Militärbasen für die Raketenabwehr in Ost- und Südosteuropa.
Über die möglicherweise eklatanten Folgen der amerikanischen Raketenabwehr für die internationalen Beziehungen sind die Experten geteilter Meinung. "Die Chinesen werden ihre 20 Interkontinentalraketen auf jeden Fall aufstocken", prognostiziert Regina Hagen. Auch einige Politikwissenschaftler erwarten einen chinesischen Rüstungswettlauf, während andere keine direkten Auswirkungen auf das weltweite Umfeld ausmachen wollen. Als Begründung für den Bau der Raketenabwehr hatte Bush stets die sogenannten "Schurkenstaaten" wie Nordkorea angegeben.