Großbritanniens wütender Rabbiner
26. November 2019Eigentlich mischen sich religiöse Führer in Großbritannien nicht in die Tagespolitik ein, schon gar nicht vor den Wahlen. Das gilt besonders für führende Rabbiner. Doch bei den bevorstehenden Neuwahlen am 12. Dezember ist nichts mehr wie es war: Ausgerechnet Großbritanniens orthodoxer Ober-Rabbiner Ephraim Mirvis hat Labour-Chef Jeremy Corbyn massiv angegriffen.
In einem Beitrag für die Tageszeitung "The Times" schrieb er: "Ein paar Wochen vor der Wahl ist die große Mehrheit britischer Juden von Angst erfasst". Sein Vorwurf: "Ein Gift – von oben gebilligt – hat in der Labour Party Wurzeln geschlagen". Der Umgang mit Antisemitismus in der Partei mache Labour-Chef Jeremy Corbyn "ungeeignet für das Amt des Premierministers".
Ephraim Mirvis nennt es "einen der schwersten Momente seiner Karriere", dass er sich jetzt einmischen müsse. Denn er weiß: Traditionell ist die politische Heimat der jüdischen Gemeinden in Großbritannien die Labour Party. Deren Nord-Londoner Wahlkreise galten stets als sichere "rote Bank".
"Es steht mir nicht zu, irgend jemandem vorzuschreiben, wie er wählen solle", so Mirvis. "Ich frage nur: Was wird das Ergebnis dieser Wahlen über den moralischen Kompass der Nation aussagen? Am 12. Dezember bitte ich jeden, nach seinem Gewissen abzustimmen. Aber zweifelt nicht daran, dass es um die Seele unseres Landes geht", schreibt der Ober-Rabbiner in einer dramatischen Schlussfolgerung.
Schlag gegen Corbyn und Labour
Die Antisemitismus-Vorwürfe begleiten Jeremy Corbyn seit 2015, als er Parteichef von Labour wurde. Teilweise wurden sie aus historischen Auftritten abgeleitet, wo er Hamas und Hisbollah als "Freunde" bezeichnete oder vor der palästinensischen Botschaft in Tunesien einen Kranz für die "Helden des Kampfes" gegen Israel niedergelegt hatte.
Das politische "Gift", auf das sich Rabbi Mirvis bezieht, hat mit dem Linksrutsch der Partei in den vergangenen Jahren zu tun. Je stärker die linke "Momentum-Bewegung", die Corbyn unterstützt, bei Labour wurde, desto mehr wuchs auch eine Israel-Kritik, die nach Auffassung von Beobachtern die Grenzen zum Antisemitismus immer wieder überschritt.
Die Partei weist die Vorwürfe zurück: "Jeremy Corbyn kämpft seit jeher gegen Antisemitismus und hat absolut klar gemacht, dass sich niemand in seinem Namen antisemitisch betätigen kann". Außerdem würden alle Klagen wegen mutmaßlicher antisemitischer Vorfälle untersucht.
Trotz dieses Dementis ist der Antisemitismus-Vorwurf bei Labour eine schwärende Wunde: In den vergangenen zwei Jahren sind 13 Labour Abgeordnete zurückgetreten, auch aus Protest gegen antisemitische Vorfälle und das Klima in der Partei. Zuletzt warf Partei-Vize Tom Watson das Handtuch, der seit längerem den innerparteilichen Umgang mit Antisemitismus scharf kritisiert hatte.
Abgang zu den Liberalen
Prominenteste Seitenwechslerin bei Labour ist die Abgeordnete Luciana Berger, die nun mit guten Chancen in der Londoner Labour-Hochburg Golders Green-Finchley für die Liberalen antritt. Sie erklärte auf einer Wahlkampfveranstaltung, dass sie als Studentin der Labour Party beigetreten sei, gerade weil sie an ihren Kampf gegen Diskriminierung und Vorurteile geglaubt habe.
"Ich hätte nie gedacht, dass ich durch anti-jüdischen Rassismus zum Austritt gezwungen werden könnte", so Berger. Aber genau so sei es gekommen. Hunderte hätten wegen Antisemitismus inzwischen die Partei verlassen, wie etwa die langjährige jüdische Abgeordnete Louise Ellman, die aus Protest ihr Mandat niederlegte. Berger gibt Jeremy Corbyn die Schuld an den Zuständen in der Partei.
"Ich wurde von einer Labour-Abgeordneten zu einer jüdischen Abgeordneten und zu einem ständigen Opfer von antisemitischen Beleidigungen und Belästigungen", sagte sie. "Ich erfuhr ein Maß an Schmähungen innerhalb der Partei, wie es niemand erleben sollte."
Unterstützung und Widerspruch
Unerwartete Unterstützung erfuhr Rabbi Mirvis vom Oberhaupt der anglikanischen Kirche, Bischof Justin Welby. "Dass der Ober-Rabbiner sich zu so einer beispiellosen Erklärung veranlasst sah, sollte uns das tiefe Gefühl von Verunsicherung und Angst deutlich machen, das viele britische Juden empfinden". Der Bischof mahnt: "Niemand von uns darf selbstzufrieden sein. Wer sich mit Worten gegen Antisemitismus stellt, muss auch sichtbare Taten folgen lassen".
Widerspruch kommt dagegen von Lord Alfred Dubs, der 1939 vor den Nationalsozialisten aus Prag geflüchtet und mit den Kindertransporten nach Großbritannien gekommen war. "Ich glaube, Corbyn ist zum Premierminister geeignet, und er ist nicht antisemitisch", erklärte er. Andererseits habe es unter seiner Führung Dinge bei Labour gegeben, die schon vor Jahren gestoppt hätten werden müssen.
Selbstkritisch zeigt sich auch die Sprecherin für Gleichstellung in der Partei, Naz Shah: Die Partei habe nicht "ihr Bestes getan im Umgang mit Antisemitismus, es ist schmerzhaft, dass wir einräumen müssen, dass wir damit ein Problem haben". Ihre Schlussfolgerung: Wenn die Labour Party bei diesem Thema alles richtig gemacht hätte, wäre es nicht zu dem Angriff des Ober-Rabbiners gekommen.