Angststörung: Hypochondrie ist heilbar
22. Juli 2019Mit 25 Jahren fing sich für Sebastian Kraemer auf einmal alles an zu drehen. Er stand als Praktikant in der Kantine einer großen Firma zur Personalvermittlung. Mit Mühe schaffte er es zum Tisch, kreidebleich, mit Schweißperlen auf der Stirn.
Es war nur ein grippaler Infekt, der seinen Körper belastet hatte. Doch als er nach einer Woche wieder in der Kantine stand und an den Vorfall erinnert wurde, hatte er Angst, Angst, dass es nochmal passiert, Angst, dass es doch nicht nur an einer Grippe gelegen hatte. Und diese Angst steigerte sich.
Kraemer hörte immer öfter in sich hinein. Bei einem Zwicken in der Brust, bei Flimmern vor den Augen, bei einem leichten Kopfschmerz setzte er sich vor seinen Computer und durchsuchte stundenlang Foren, Blogs und Seiten nach Krankheitssymptomen. Davon versprach er sich Beruhigung. "Aber die Suche im Internet hat mich nie beruhigt", sagt er.
Viel eher dachte er durch das, was er gelesen hatte, dass er doch an einer unheilbaren Krankheit litt. Mal vermutete er, er hätte Multiple Sklerose, mal Krebs, mal Herz-Kreislaufprobleme. Und er ließ sich immer wieder vom Arzt durchchecken.
Er verbrachte mehrere Tage im Krankenhaus, um sich von Kopf bis Fuß röntgen und untersuchen zu lassen. Doch die Ärzte fanden nichts. "Fürs erste war ich dann beruhigt, doch nach ein paar Tagen schlichen sich wieder Zweifel ein", sagt er: "Könnten sie nicht etwas übersehen haben?"
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Wenn die Angst das Leben lähmt
Kraemer litt unter Hypochondrie. Das ist eine psychische Erkrankung, bei der körperlich gesunde Menschen große Angst haben, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden. Es ist eine sogenannte Angststörung.
Die Beschäftigung mit möglichen Krankheiten nimmt mehr und mehr Zeit ein und beeinträchtigt das alltägliche Leben. Manche Betroffenen ziehen von Arzt zu Arzt. Wenn ein Arzt ihnen sagt, es sei alles in Ordnung, befürchten sie, dieser hätte etwas übersehen.
Professor Alexander Gerlach kennt diese Sorgen von seinen Patienten. Er leitet die Spezialambulanz für Krankheitsangst an der Universität zu Köln. Statt Hypochondrie benutzt er lieber den Begriff Krankheitsangststörung oder somatische Belastungsstörung.
"Die Bezeichnungen Hypochonder oder Hypochondrie können leicht stigmatisieren, weil es in der Gesellschaft oft impliziert, dass die Symptome nur eingebildet sind", sagt er: "Die Symptome sind aber meist da und nicht eingebildet. Doch sie müssen nicht auf eine schwerwiegende Krankheit hinweisen."
Er sagt, in 70 Prozent der Hausarztbesuche könnte man für ein Symptom, wie ein Zwicken oder Drücken an einer bestimmten Stelle, keine besondere Krankheit feststellen. Generelle Angst vor Krankheiten sei weit verbreitet. Doch die meisten Leute seien nach einem Arztbesuch dann wieder beruhigt. Rund 1 Prozent der Bevölkerung belastet die Angst vor Krankheiten aber im Alltag so sehr, dass sie an fast nichts Anderes mehr denken.
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Panikattacken - die Angst vor der Angst
Bei Sebastian Kraemer kam zu seiner Hypochondrie noch eine generalisierte Angststörung hinzu. Er machte sich Sorgen über alles. Er erlitt Panikanfälle. Und nach jedem stieg die Angst vor der nächsten Panikattacke. Kraemer hatte Angst vor der Angst.
Besonders schlimm wurde die Angst in öffentlichen Situationen, in denen er nicht so schnell flüchten konnte. Im Kino, in der Straßenbahn, beim Friseur. Überall, wo er nicht schnell ohne viel Aufhebens aus dem Raum konnte. Es wurde ihm schwindelig, sein Puls stieg an, er fing an zu zittern und zu schwitzen und konnte sich kaum noch auf die Situation konzentrieren, in der er sich befand.
Dazu kam, dass ihm in der Zeit die Haare ausfielen. Er bekam eine Glatze, verlor seine Augenbrauen und seine gesamte Körperbehaarung. "Ich habe daran gezweifelt, dass das alles nur psychische Ursachen hatte", sagt er. Und dann habe er wieder nach möglichen körperlichen Ursachen und möglichen Krankheiten gesucht.
Was hilft
Professor Gerlach und sein Team von Therapeuten gehen mit den Patienten erst einmal deren Vorerfahrungen und Verhaltensweisen auf den Grund. Dann erklärt er, dass übermäßiges Hineinhören in den Körper die Empfindungen verändert. Was vorher nicht wahrgenommen wurde, macht nun Sorgen.
Die Patienten müssen lernen, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. In der Therapie provoziert der Therapeut auch bestimmte Körperreaktionen, damit die Betroffenen lernen, mit Reaktionen ihres Körpers umzugehen. Dazu gibt es etwa ein kleines Tastgerät, was unter dem Finger vibriert oder ein Atemgerät.
Es gibt neben Einzel- auch Gruppentherapie. "Es ist gut, wenn man feststellt, dass andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben", sagt Professor Gerlach. Generell empfiehlt er auch Entspannungsübungen und Sport.
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Sport und Entspannung haben auch Sebastian Kraemer geholfen. Übungen wie die progressive Muskelentspannung lernte er in einer Kur kennen. Schon zuvor hatte er eine psychologische Therapie gemacht, doch da kreisten die Gespräche meist nur um seine Ängste.
Irgendwann wurden ihm die Panikattacken zu viel. Er meldete sich für eine sechswöchige psychosomatische Reha an. "Das Entscheidende für mich war, dass ich einfach raus aus meinem Alltag gegangen bin, um mich mit mir und meinem Leben auseinander zu setzen", sagt Kraemer heute.
Angst als Ablenkung?
Er sei überzeugt, dass die Hypochondrie auch eine Ablenkung von anderen Gedanken sein kann, sagt Kraemer. "Ich stand vor einem neuen Lebensabschnitt, musste mich damit beschäftigen, wie ich leben wollte, ob als Single oder ob ich Verantwortung für Kinder übernehmen wollte, als was ich arbeiten wollte und so weiter."
Wenn man sich damit beschäftigt, dass man möglicherweise schwer krank ist, muss man sich nicht mit anderen Dingen auseinandersetzen. "Ungeschminkt auf das eigene Leben zu blicken und sagen zu müssen: 'Das gefällt mir so nicht!' und zwar ganz unabhängig von den Ängsten, kann sehr schmerzhaft sein", sagt Kraemer.
Deshalb sei es sehr wichtig, ehrlich mit sich selbst zu sein. Was läuft gerade nicht nach Plan? Welche schweren Entscheidungen stehen an? Dies sind nur zwei Fragen, die Kraemer lernte, sich selbst zu stellen.
Auch von fehlenden Leidenschaften oder Langeweile im Leben könne man sich unterbewusst dadurch ablenken, dass man sich mehrere Stunden am Tag mit möglichen Krankheiten beschäftigt, vermutet Kraemer. Dies sei bei ihm aber nicht der Fall gewesen. Professor Gerlach kann sich diesen Mechanismus als einen möglichen Faktor vorstellen. In der Forschung sei diese Erklärung für Hypochondrie aber noch nicht gut belegt.
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Angst aus der Vergangenheit
Als Therapeut achtet Gerlach eher darauf, ob seine Patienten Vorerfahrungen mit Krankheiten hatten - bei sich selbst oder bei nahestehenden Menschen. Auch Menschen in Berufen, in denen sich viel um Krankheiten dreht, können anfällig sein.
Sebastian Kraemers Vater war durch eine schwere Erkrankung früh gestorben. Das könne seine Hypochondrie beeinflusst haben, sagt Kraemer.
"Wenn ich heute Schicksalsschläge erlebe, passe ich auf mich auf", sagt er. "Wenn ich merke, dass ich mich nicht gut fühle, konzentriere ich mich darauf, was wirklich gerade los ist, welche Gefühle, wie zum Beispiel Trauer, ihren Raum brauchen." Er versuche dann, nicht wieder anzufangen, mögliche Krankheitssymptome zu suchen und sich nicht mit hypothetischen Krankheitsbildern abzulenken.
Ein bisschen Angst ist gut
Auch seine Haare seien nach der Kur wieder gewachsen. Professor Gerlach sagt, Haarausfall sei kein typisches Symptom einer Angststörung. Doch psychische und körperliche Genesung seien nicht zu trennen. "Selbst ein Knochenbruch heilt schneller, wenn ich psychisch gesund bin", sagt Gerlach. Wichtig ist es bei psychischen Erkrankungen sich Unterstützung von einem Experten zu holen.
Während seiner Kur hat Kraemer sich auch Antworten auf seine wichtigsten Fragen gesucht. In der Kur musste er sich vorstellen, er habe nur noch drei Tage zu leben. Der Arzt wollte herausfinden, ob Kraemers Hypochondrie mit der Angst vor dem Tod verbunden sein konnte. Das war bei Kraemer nicht so.
Doch in dem Gedankenspiel musste er sich vorstellen, was er gerne noch gemacht hätte. "Ich merkte nicht nur, dass ich gerne Verantwortung übernehmen und Kinder bekommen wollte", sagte Kraemer, "sondern auch dass ich gerne etwas machen würde, was Anderen nachhaltig hilft."
Er überwand seine Angststörung, fing wieder an Fußball zu spielen, entspannt Musik zu hören und sogar zu malen. Und er schrieb ein Buch und einen Blog. Darin erzählt er seine eigene Geschichte, um anderen Menschen Mut zu machen, auch ihre Angststörungen zu überwinden.
Ein ganz angstfreies Leben ist nicht erstrebenswert, sagt Kraemer. "Angst in normalem Maße schützt uns vor Dummheiten, fördert Kreativität und erhöht die Konzentration." Doch er hat gemerkt, dass ein angststörungsfreies Leben möglich ist, wenn man sich wirklich mit sich selbst auseinandersetzt.