"Wir haben ein großes Wertschätzungsproblem"
23. März 2019DW: Gerade ist Ihr neues Buch mit dem Titel "Wie tickt Deutschland?" erschienen. Können Sie uns mehr darüber erzählen, wie das Land und die Nation wirklich tickt?
Stephan Grünewald: Was derzeit zu beobachten ist, quer durch die Tausenden von Tiefeninterviews, die wir beim Institut rheingold in den letzten Jahren gemacht haben, ist eine Unruhe. Deshalb lautet der Untertitel des Buches auch "Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft". Es gibt eine Unzufriedenheit, die sich häufig in Wut entlädt. Wir sind zwar ein Land, das in einem relativen Wohlstand lebt, dennoch blicken die Menschen in Deutschland angstvoll in die Zukunft. Sie haben das Gefühl, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren gegangen ist.
Wo kommt dieser Widerspruch her? Immerhin ist Deutschland ein so reiches Land, wie Sie neulich in einem anderen Interview gesagt haben. Medizinisch sind wir alle gut versorgt. Woher kommt diese "German Angst"?
Das ist fast schon ein Wohlstandsphänomen. Deutschland ist eines der letzten Paradiese. Aber gleichzeitig merken die Menschen, die Welt ist im Umbruch. Die Zukunft kommt, aber die Zukunft wird nicht als Gestaltungsmöglichkeit, als Chance, sondern eher als Einbruch des Grauens erlebt.
Sie sagten, dass diese Unzufriedenheit und diese Angst sich in diesem Land häufig in Wut ausdrückt. Inwiefern? Wo schlägt sich das gesellschaftlich nieder?
Wir haben in Deutschland ein sehr großes Wertschätzungsproblem. Teile der Bevölkerung haben das Gefühl, dass die gesellschaftlichen Eliten naserümpfend und arrogant auf sie herabblicken. Das heißt, man hat das Gefühl, es gibt kein gesellschaftliches Solidarprinzip mehr. Es gibt in ihren Augen eine Klasse, die moralisch überlegen ist, die sich nicht verändern muss in ihrem Lebensstil, und es gibt die anderen, die Dummen, die ewig Gestrigen, die verkehrt sind und den Schwarzen Peter der Veränderung haben.
In früheren Zeiten der Bundesrepublik Deutschland, in den 1970er bis 1990er Jahren, gab es dieses Solidarprinzip noch. Da hatte man den Eindruck, dass die gesellschaftlichen Eliten für die Rechte der Schwachen kämpfen, für eine Bildungsreform, damit auch Arbeiterkinder studieren konnten, und für mehr soziale Gerechtigkeit in Deutschland. Jetzt hat man das Gefühl, dass wir fast eine gesellschaftliche Spaltung haben - ideell wie auch materiell. Viele Menschen erleben, dass sie nichts mehr für ihr sauer erspartes Geld und keine Zinsen mehr bekommen. Diese Menschen haben die Sorge, dass sie sich zum Beispiel Wohnraum in den Innenstädten irgendwann nicht mehr leisten können. Sie fragen sich: Habe ich überhaupt noch ein Bleiberecht in diesem Deutschland? Und sie haben vor allem die große Sorge, dass die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz ihre Arbeitsplätze wegrationalisiert.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es hier, in unserem Land, keine gemeinsamen Träume, aber auch keine gemeinsamen Ängste gibt. Wie würden denn gemeinsame Träume in einer deutschen Gesellschaft aussehen?
Wenn wir in die deutsche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg blicken, da gab es einen gemeinsamen Traum: Die Deutschen wollten das Land aufbauen und einen gewissen Wohlstand erwerben. Und dann gab es den Traum: Wir wollen wieder in die internationale Gemeinschaft der anderen Völker aufgenommen werden.
In der 68er-Generation gab es den Traum: Wir bauen ein anderes Deutschland auf, das friedlicher, emanzipierter, toleranter, gerechter ist. Was wir beobachten ist, dass mit der Auflösung der Ost-West Dialektik, die aus dem Nebeneinander der beiden deutschen Staaten BRD und DDR entstand, diese gemeinsamen Träume erloschen sind. Beim nächsten Aufschwung war die Haltung: Geht's noch ein bisschen besser? Aber selbst die wirtschaftliche Prosperität führt nicht mehr zu einem kollektiven Traum, sondern da merkt man, dass bestimmte Bereiche der Gesellschaft profitieren, andere nicht. Das hat natürlich dazu geführt, dass wir eine große Flucht in den Individualismus, in die Selbstoptimierung haben. Der gemeinschaftsstiftende gemeinsame Traum ist quasi durch die persönliche Ego-Maximierung, durch weitverbreiteten Eigennutz ersetzt worden ist.
Warum gibt es keine gemeinsamen Ängste? Es gibt bestimmt globale Ängste z.B. in Bezug auf Umwelt, Klimawandel und auf Terroranschläge. Aber warum können Menschen solche Ängste nicht teilen? Oder sind sie so mit sich selbst beschäftigt, dass das nicht möglich ist?
Ich glaube, dass es das nicht mehr so gibt. Vielleicht ansatzweise beim Klimawandel, wo jetzt vor allen Dingen die jungen Menschen aktiv werden. Aber selbst beim Thema Klimawandel spalten sich die gesellschaftlichen Gruppen in Deutschland in diejenigen, die an pragmatischem, situativem Eigennutz orientiert sind und keinen Verzicht, keine Fahrverbote haben wollen und denjenigen, die radikalere Maßnahmen zum Klimaschutz fordern.
Inwiefern sind die Sorgen und die Unzufriedenheit der deutschen Bevölkerung wirklich nur deutsch-spezifisch? Kann man das auch auf Europa übertragen? Es gibt immerhin auch die "Gelbwesten"-Bewegung in Frankreich…
Ich glaube, dieses Wertschätzungsproblem gibt es in Frankreich, oder auch in Amerika. Eine Gesellschaft, die gemeinsame Träume, ihre gemeinsamen Perspektiven verliert, driftet zunehmend auseinander, entwickelt unerbittliche politische Lager. Ich beschreibe ein Phänomen, das eben auch zur Wut führt. Das ist sicherlich ein europäisches oder sogar weltweites Phänomen, dass die Digitalisierung im privaten Bereich über Smartphones unsere Erwartungshaltung an die Welt radikal verändert. Mit dem Smartphone haben wir ein zusätzliches Körperteil, das auch als Zepter der Macht fungiert und uns verspricht, allmächtig und allwissend zu sein. Und das uns vor allen Dingen suggeriert, dass Prozesse, die früher mühsam, zeitaufwendig und kleinschrittig waren, im Handstreich zu erledigen sind.
Das heißt, mit dem Handy haben wir einen magischen Zeigefinger: im Handstreich, im Fingerwisch, können wir Transaktionen tätigen, das Weltwissen "ergoogeln", Partner "ertindern", Reisen buchen. Und auf einmal ist die große Erwartungshaltung da: Warum können wir nicht das ganze Leben spielerisch im Handstreich absolvieren?
Das bricht sich aber immer wieder mit der Alltagserfahrung. Im analogen Alltag merken wir, dass das Leben immer noch beschwerlich ist. Wir haben immer noch Partner, die uns widersprechen, Kinder, die uns auf der Nase herumtanzen und Vorgesetzte, die uns drangsalieren. Das heißt, wir kippen immer wieder aus der digitalen Allmacht in die analoge Ohnmacht. Und genau dieser Prozess erzeugt Wut. Weil die analoge Widersprüchlichkeit nicht mehr als gottgegeben oder naturgemäß hingenommen wird, sondern als riesige Zumutung, als Betrug, als Verrat an den digitalen Heilserwartungen erlebt wird.
Ist die Spanne zwischen dieser erhöhten Erwartungshaltung und der Realität größer geworden?
Wir haben inzwischen eine ungeheure Fallhöhe. Das kann jeder beobachten, der am Computer sitzt. Wir drücken auf einen Knopf und warten, dass diese Seite sich aufbaut. Wenn dieser Seitenaufbau nur ein paar Sekunden verzögert ist, dann packt uns schon die Unruhe und die Wut und wir werden unduldsam.
In den letzten Wochen gab es viel Bewegung im Bezug auf den Brexit und eine mögliche Verschiebung. Das ist permanent mit sehr viel Hin-und-Her verbunden. Wie können Menschen mit so einer dauerhaften politischen Unsicherheit umgehen? Bricht das politische System irgendwann zusammen?
Gerade in Zeiten des Umbruchs erwarten die Menschen von der Politik natürlich Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und eine klare Orientierung. Und in England sind die Parteien so in ihrem politischen Eigennutz, ihren Machtspielen verkantet, dass es für den normalen Menschen gar nicht mehr nachvollziehbar ist, was da passiert. Wo steuert das hin und ist das überhaupt eine Entwicklung, die mit menschlichem Maß getroffen wird? Das haben wir im Kleinen auch in Deutschland. Auch hier haben die Parteien ihre Orientierungsfunktion eingebüßt. Viele Bürger haben das Gefühl, die Politik ist austauschbar und breiig geworden.
Es sind ja nicht nur die Briten, die von einem möglichen Brexit betroffen sind, sondern die Europäer allgemein. Inwiefern kann das ganze Brexit-Hin-und–Her überall in Wut umschlagen?
Ich glaube, der Brexit war - ähnlich wie die Präsidentschaft von Donald Trump - auch für die Deutschen so ein Weckruf. Man merkte, da passiert etwas; Gewissheiten, die über lange Zeit für unser Leben stabilisierend waren, gehen auf einmal verloren. Man merkt gerade bei der Jugend eine große Unruhe: Was passiert, wenn dieses Europa auseinanderdriftet? Wenn das, was wir als Reisefreiheit haben, als wunderbaren Handelsraum, wenn die globalen Netzwerke, die wir haben, auf einmal wieder erodieren und wir, sage ich mal, in ein nationales Kleinstaatentum zurückfallen? Das ist so eine Grundunruhe, wo kein Bürger, glaube ich, einschätzen kann, was passiert genau durch den Brexit und wie stark wird das die Wirtschaft und die Lebensverhältnisse beeinträchtigen. Aber es ist auch ein Anzeichen, dass eine Ära zu Ende geht und das erzeugt unterschwellig große Sorgen.
Das Interview führte Louisa Schaefer.
Stephan Grünewald ist Diplom-Psychologe und Gründer des Marktforschungsinstituts Rheingold. "Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft" ist sein neuestes Buch; zuvor veröffentlichte er u.a. "Die erschöpfte Gesellschaft. Warum Deutschland neu träumen muss" (2013) und "Deutschland auf der Couch. Eine Gesellschaft zwischen Stillstand und Leidenschaft" (2006).