Türkei: Sehnsucht nach Gerechtigkeit
21. Juni 2017Es ist eine Protestaktion: Der Vorsitzende der CHP (Republikanische Volkspartei) der größten säkularen Oppositionspartei in der Türkei, Kemal Kilicdaroglu, geht zu Fuß von Ankara nach Istanbul. Es ist ein "Marsch für die Gerechtigkeit" - und seit sechs Tagen ist er nun bereits unterwegs.
Trotz des starken Regens in den letzten Tagen ist der Oppositionsführer fest entschlossen, das 430 Kilometer entfernte Ziel zu erreichen. Es ist das Maltepe-Gefängnis in Istanbul, wo der Abgeordnete Enis Berberoglu inhaftiert ist. Berberoglu war beschuldigt worden, den Journalisten Can Dündar und Erdem Gül von der Zeitung "Cumhuriyet" Filmmaterial aus dem Jahr 2014 zugespielt zu haben. Darauf soll zu sehen sein, wie der türkische Geheimdienst Waffen nach Syrien schafft. Die Zeitung berichtete im Mai 2015 über den Fall. Der ehemalige Journalist und heutige CHP-Abgeordnete war vergangene Woche zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Er ist der erste CHP-Abgeordnete, der seit dem Putschversuch vom 15. Juli inhaftiert wurde.
Das Ziel ist die Gerechtigkeit
Seit einer Woche geht Kilicdaroglu täglich bis zu 20 Kilometer. Hin und wieder macht er eine Pause. Was will er mit seinem Protestmarsch erreichen?
Die Idee reifte schon länger in seinem Kopf, erzählt Kilicdaroglu der DW im Gespräch. Doch erst die Verhaftung von Berberoglu brachte das Fass zum Überlaufen. "Als Berberoglu festgenommen wurde, haben wir uns sofort versammelt. Ich habe meine Protest-Idee dort zum ersten Mal geäußert", sagt er. Er habe seinen Parteikollegen gesagt, dass es Zeit sei, das Thema Gerechtigkeit in den Mittelpunkt zu stellen. "Gerechtigkeit ist die Grundlage aller Religionen. Recht basiert auf Gerechtigkeit", sagt Kilicdaroglu. Deshalb habe er beschlossen, ein Plakat zu tragen, auf dem das Wort "Adalet" - auf Deutsch "Gerechtigkeit".
Ziel des Marsches sei außerdem nicht nur, Gerechtigkeit zu etablieren, sondern auch der ganzen Welt die Sehnsucht der türkischen Gesellschaft nach Gerechtigkeit zu vermitteln.
Gemeinsam unterwegs
Kilicdaroglu marschiert nicht alleine. Seit dem ersten Tag begleiten ihn diejenigen, die ebenso wie er, Demokratie und Gerechtigkeit fordern. Der Gründer der konservativen Partei HAS zum Beispiel: Der Mediziner Cihangir Islam marschiert ebenfalls mit. Er wurde per Dekret vom Staatsdienst entlassen, weil er "eine Petition für Menschenrechte und Gerechtigkeit " unterschrieben hat.
Ähnlich wie andere entlassene Akademiker in der Türkei, sind auch ihm die Rechtswege versperrt. "Ich bin auf der Suche nach Gerechtigkeit und werde nicht aufhören zu gehen, bis ich sie finde", sagt Cihangir Islam. Gehen sei ein Recht und Rechte seien nicht streitbar.
Auch aus dem Volk erhalten die Marschierenden Unterstützung. Am Straßenrand stehen immer wieder Menschen, die ihnen zujubeln und winken. So viel Unterstützung hat Kemal Kilicdaroglu allerdings nicht erwartet: "Es gab ein Klima der Angst in der Gesellschaft. Ich wollte alleine handeln, alle anderen nicht gefährden. Aber wir bekommen starke Unterstützung von jungen Menschen und Frauen."
"Wir sind bereit den Preis zu zahlen"
Kilicdaroglus Protest missfällt der türkischen Regierung. Staatspräsident Erdogan warnte den Oppositionellen: "Wenn die Justizbehörden Sie morgen irgendwohin zitieren, dann seien Sie nicht überrascht."
Kilicdaroglu lässt sich durch diese Äußerung nicht beeinflussen. Dass Erdogan ihn direkt zur Zielscheibe mache, zeige, dass er auf dem richtigen Weg sei. "Sie reagieren auf alles unverhältnismäßig. Erdogan hat zu Provokationen aufgerufen, aber wie Sie sehen ist mir nichts passiert. Wir machen von unserem Recht Gebrauch. Wenn jemand denkt, dass er uns durch das Gewährung dieses Rechtes einen Gefallen tut, dann ist er ein Diktator."
Laut Kilicdaroglu beabsichtigt Erdogans Regierung nicht, Demokratie zu errichten oder zu entwickeln. "Wenn durch unseren Protest die Demokratie wiederhergestellt wird und jemand dafür den Preis zahlen wird, dann sollen zuerst die Politiker diesen Preis zahlen. Nicht die Bürger", sagt Kilicdaroglu.
Insgesamt 25 Tage soll der Protestmarsch dauern. Er soll dort enden, wo Gerechtigkeit am stärksten gefordert ist: vor einem Gefängnis.