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Proteste in Tunesien weiten sich aus

11. Januar 2011

Wirtschaftlicher Wohlstand statt Demokratie und Menschenrechte: Bislang konnte sich Tunesiens Präsident Ben Ali mit diesem fragwürdigen Konzept an der Macht halten. Jetzt demonstrieren immer mehr Tunesier gegen Ben Ali.

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Demonstrierende Tunesier (Foto: AP)
Die Geduld der Tunesier ist am EndeBild: dapd

Immer mehr Tote, immer mehr Verletzte. Die Gewalt eskaliert in Tunesien, überall formieren sich neue Demonstrationen. Seit sich Mitte Dezember der arbeitslose Student Mohamed Bouazizi aus lauter Verzweiflung selbst in Brand steckte, hat der Protest sich auf die großen Städte ausgeweitet. Im Westen des Landes wurde zum ersten Mal die Armee eingesetzt. Einige Studenten schweben in Lebensgefahr – auf Befehl von ganz oben haben Soldaten auf die Demonstranten geschossen – mit scharfer Munition.

Das tunesische Innenministerium bezeichnet den Einsatz von Waffengewalt als legitime Selbstverteidigung. Für den Oppositionspolitiker Ahmed Chebbi ein Skandal. Die brutale Gewalt der Sicherheitskräfte sei absolut ungerechtfertigt, sagt Ahmed Chebbi. Die Demonstrationen seien friedlich, die Menschen seien unbewaffnet und sie forderten einfach nur Arbeit, Freiheit und Respekt. "Und was tut die Regierung? Sie lässt auf die jungen Leute schießen. Ich fordere den Präsidenten auf, seine Kettenhunde zurückzurufen, damit Tunesien nicht in einer Spirale der Gewalt versinkt!"

Keine Jobs für Akademiker

Demonstranten (Foto: Moncef Slimi)
Proteste gegen Ben AliBild: DW

Präsident Ben Ali ist seit 23 Jahren an der Macht, er regiert mit harter Hand. Vordergründig hat er Tunesien zu einem Vorzeigestaat in Nordafrika gemacht, zu einem beliebten Urlaubsziel, mit einem vermeintlich stabilen Wirtschaftswachstum. Doch unter der Oberfläche brodelt es schon lange.

Für Zehntausende Absolventen der Universitäten gibt es keine Jobs, investiert wurde über Jahrzehnte nur an der schicken Mittelmeerküste und in den Touristenhochburgen. Auch die blutigen Unruhen sollen den Schein des "Vorzeigestaates" nicht trüben. Das Staatsfernsehen strahlt vor allem Bilder blühender Landschaften in Tunesiens Mittelmeerregion aus - und die jüngste Fernsehansprache von Präsident Ben Ali. Darin verspricht er vollmundig, 300.000 neue Jobs zu schaffen. Er werde einen Runden Tisch veranstalten, an dem alle teilnehmen sollen. Die Politik, die Wirtschaft, die Universitäten und die Bürgermeister, sagt der Präsident. "Wir wollen den Leuten zuhören und uns um ihre Probleme für die kommenden Jahre kümmern, damit wir wissen, was ihnen fehlt."

Für viele Tunesier sind das leere Versprechen. Ben Ali hat einen Polizeistaat geschaffen, in dem Menschenrechte und Pressefreiheit massiv bedroht sind. Den Maghreb-Kenner Rudolf Chimelli von der Süddeutschen Zeitung wundert es nicht, dass die Proteste nun derart eskalieren. Unterschwellig sei diese Wut immer da dagewesen, sagt er. "Das war gestaut wie hinter einem Damm. Und wenn das anfängt zu fließen, dann weiß man nicht, was das für Folgen hat." Dies sei eine Bewegung von erheblicher Breite, denn sie habe reale Grundlagen. "Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die jungen Akademiker sind noch schlechter dran, und die Bereicherung der Führenden ist so eklatant, dass Zündstoff genug vorhanden ist", sagt Chimelli.

"Tunesien geht es gut"

Längst gehen nicht mehr nur arbeitslose junge Leute auf die Straße, sondern auch Anwälte, Ärzte, Gewerkschafter, sogar regierungstreue Beamte. Präsident Ben Ali blendet diese Realität aus. Sein UNESCO-Botschafter Merzi Haddad spielt die Unruhen im französischen Fernsehen auf bizarre Weise herunter. Das sei keine soziale Krise und erst recht keine Regierungskrise, sagt er. "Die Tunesier wissen, dass sie 1987 einen Präsidenten gewählt haben, der ihnen genau zuhört, der für sie da ist, der weiß, was ihnen fehlt." Es gebe keinen Klassenkampf in Tunesien. Vielmehr gebe es Regierungskritiker, die die Jugend aufstachelten und für ihre Zwecke missbrauchten. "Aber ich versichere Ihnen – Tunesien geht es gut", sagt Haddad.

Aufruf zur Vorsicht

Die verzweifelte Generation auf der Straße sieht das völlig anders. Die Menschen fordern ein Ende der Diktatur – sie wollen Freiheit und Gerechtigkeit, und viele sind bereit, dafür ihr Leben aufs Spiel zu setzen. So laut und deutlich sind die Proteste, dass das Bild vom Traumstrandland Tunesien auch in der deutschen Öffentlichkeit bröckelt: Wegen der Gewalt mahnt das Auswärtige Amt zu "erhöhter Vorsicht" bei Reisen nach Tunesien.

Autor: Alexander Göbel
Redaktion: Christine Harjes