Die Regierung in Paris hält sich bedeckt
9. März 2019Auch an diesem Wochenende haben wieder tausende Algerier gegen die erneute Kandidatur des siechen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika protestiert. Am vergangenen Sonntag hatte sich der 82-Jährige erneut für die Präsidentenwahl am 18. April aufstellen lassen. Es wäre seine fünfte Amtszeit. Nach heftigen Protesten am Freitag in der Haupstadt Algier meldeten Kliniken und Sicherheitsbehörden jeweils mehr als 100 verletzte Zivilisten und Polizisten.
Auch in Frankreich, wo seit der Kolonialzeit viele Algerier leben, sorgt die Bouteflika-Kandiatur für Proteste. Stunden, bevor sich dieser für die Wahl registrieren ließ, versammelten sich Tausende auf der Place de la Republic in Paris und forderten ein Ende der 20 Jahre anhaltenden Herrschaft von Bouteflika und dessen Clique. Denn spätestens seit seinem Schlaganfall ist umstritten, wie viel seiner Macht der Präsident wirklich noch selbst ausübt.
"Wir Franko-Algerier stehen voll auf der Seite des algerischen Volkes", sagt der Jurist Madjid Messaoudene. "Und wir wissen, dass sie uns sehen, und das macht uns stolz."
Das Schweigen im Élysée
Wenige Kilometer entfernt, im Élysée-Palast sind die Reaktionen auf die Proteste in Algerien verhalten. Frankreichs sonst so mitteilsamer Präsident Emmanuel Macron hält sich auffällig bedeckt. Und auch sein Premierminister Édouard Philippe beruft sich in einem Fernsehinterview die offizielle Regierungslinie: "Algerien ist ein souveränes Land, daher kommt es alleine den Algeriern zu, Entscheidungen über ihre Zukunft zu treffen."
Mehr zu diesem Thema sei von der französischen Regierung derzeit nicht zu erwarten, sagt beispielsweise Andrew Lebovich: "Frankreich ist sehr bedacht darauf, nichts zu tun, was einer Einmischung ähnelt", so der Nordafrika-Experte des "European Council on Foreign Relations" (ECFR). "Zum einen besteht die Sorge, die Situation zu verschärfen. Zum anderen wissen sie wohl auch nicht so recht, was passieren wird. Also halten sie sich alle Möglichkeiten offen.
Doch Kritiker bezichtigen Macron der Doppelmoral, schließlich unterstütze er auch Venezuelas Opposition. Sie warnen, Frankreich riskiere, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen.
"Frankreichs Haltung gegenüber Algerien ist von Angst bestimmt", kommentierte Jean-Michel Aphatie vom französischen Radiosender "Europe 1" diese Woche und verwies auf die Gefahr, dass in Algerien eine islamistische Regierung an die Macht kommen könnte: "Hoffen wir, dass wir für diese Fehlanalyse nicht irgendwann teuer bezahlen müssen."
Die langen Schatten der Kolonialherrschaft
Frankreichs Zurückhaltung geht nicht zuletzt auf die schwierige gemeinsame Geschichte beider Länder zurück. Immer wieder haben es französische Präsidenten abgelehnt, eine offizielle Entschuldigung für die Jahrzehnte der Kolonialherrschaft auszusprechen, die 1962 nach einem langen und blutigen Unabhängigkeitskrieg endete.
In den 1990er Jahren hielt Frankreich sich weitgehend aus dem algerischen Bürgerkrieg zwischen militanten Islamisten und dem herrschenden Militärregime heraus, obwohl eine der islamistischen Terrorgruppen 1994 ein Air-France-Flugzeug entführten und mehrere Anschläge in Paris beging, weil sie Frankreich beschuldigten, ihre Gegner zu unterstützen.
"Die diplomatischen Beziehungen sind wegen der Kolonialgeschichte zwischen den beiden Ländern sehr fragil", sagt Brahim Oumansour, Nordafrika-Analyst des französischen "Instituts für Internationale Beziehungen und Strategie" (IRIS). "Jede Äußerung von Präsident Macron oder seiner Regierung würde in Algerien als Einmischung ausgelegt werden - von der Regierung und der Bevölkerung."
Auch innenpolitisch ist Algerien ein heißes Eisen: Im Wahlkampf 2017 wurde Emmanuel Macron scharf angegangen, als er die französische Besetzung Algeriens ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nannte. Später in dem Jahr besuchte er das nordafrikanische Land als Präsident und rief die Jugend auf, die koloniale Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sie sollten in ihr Land investieren, statt ein Visum für Frankreich zu beantragen.
Niemand will Chaos in Algerien
Trotz oder wegen der Vergangenheit ist Algerien ein wichtiger Partner für Frankreich - wirtschaftlich, aber auch beim Eindämmen der Migration aus Afrika und im Kampf gegen den Terrorismus dort. Diese Zusammenarbeit würde auf dem Spiel stehen, wenn Chaos im Land ausbrechen würde.
Der französische Historiker Benjamin Stora warnte in einem Interview vor einer Destabilisierung Algeriens. Und auch IRIS-Analyst Oumansour sagt: "Instabilität in Algerien könnte die ganze Region destabilisieren und Spannungen zwischen der Europäischen Union und seinen Nachbarn auslösen."
Diese Gefahr beschwört auch die algerische Regierung gegenüber den Demonstranten. Oumansour dagegen hält dieses Szenario für unwahrscheinlich. Und auch ECFR-Experte Lebovich sagt: "Ich glaube, die Stabilität des algerischen Staates wird unterschätzt." Außerdem wollten auch die Demonstranten nicht zurück in die dunklen 90er: "Sie wollen dieses System nicht, aber sie wollen keine Instabilität."
Die Macht der Auslands-Algerier
Wenn sich schon der französische Staat nicht einmischt - unter den Algeriern in Frankreich sind einige, die sich lautstark zu Wort melden. Und diese Stimmen haben durchaus Gewicht. Illegale Migranten und Doppelstaatsbürger eingerechnet leben mehrere Millionen Algerier in Frankreich. Einer von ihnen ist der Geschäftsmann und Aktivist Rachid Nekkaz. Er ist vor allem bei jungen Menschen beliebt und hat einen Cousin ins Rennen um die Präsidentschaft geschickt, nachdem seine eigene Kandidatur abgelehnt worden war, weil er die formalen Kriterien nicht erfülle.
"Die algerische Diaspora in Frankreich kann durchaus Einfluss nehmen, und es gibt einige Politiker, die in Frankreich um Stimmen werben", sagt Experte Oumansour. Allerdings bezweifelt er, dass sie eine signifikante Anhängerschaft in Algerien mobilisieren können - auch nicht der Aktivist Nekkaz.
Einige der Algerier in Frankreich plädieren dafür, die Regierung in Paris solle ihre Neutralität aufgeben. "Die französische Regierung muss verstehen, dass wir Millionen sind, nicht Tausende", sagt Djamel Maieddine bei denn Protesten auf der Place de la République. "Frankreich muss dem algerischen Volk helfen, sich von dieser Mafia zu befreien."