Die politisch anmutenden Statements rund um die Begegnungen des ersten Spieltags haben den Auftakt der FIFA-Weltmeisterschaft 2022 in Katar maßgeblich geprägt. Die Weigerung der iranischen Nationalmannschaft, die Hymne der Islamischen Republik im Spiel gegen England mitzusingen, stieß bei vielen auf Zuspruch. Nach der massiven Entfremdung der eigenen Fans von der Nationalmannschaft könnte diese unmissverständliche Geste des Protestes der "iranischen Geparde" gegen das Mullah-Regime den Beginn der Versöhnung mit den Anhängern bedeuten.
Forderung nach weiteren Gesten
Es stellt sich die Frage, ob den stark in die Kritik geratenen Nationalspielern des Landes dank ihrer Gesten im Spiel gegen England schon ein Befreiungsschlag geglückt ist. Das Team des Iran wurde bislang aufgrund der eher halbherzigen Haltung zur gegenwärtigen Freiheitsbewegung von weiten Teilen der Gesellschaft eher kritisch gesehen. Für einen echten Stimmungsumschwung bei den eigenen Fans bedarf es aber weiterer Gesten und Statements der Solidarisierung mit den Menschen im Land seitens der Nationalspieler.
Der in Trier lebende iranischstämmige Fußballtrainer Koorosh Bazyar sagte der DW: "Irans Nationalspieler sollten sich unbedingt auch bei den restlichen WM-Spielen dem Mitsingen der Hymne entziehen." Die Weltgemeinschaft blickt aus seiner Sicht sehr sensibel auf weitere Signale der Solidarisierung der iranischen Nationalspieler mit der unterdrückten Bevölkerung.
Mit Verweis auf die Protest-Geste der deutschen Fußball-Nationalmannschaft vor dem Spiel gegen Japan betont Bazyar, dass es "viele kreative Möglichkeiten für Protest gibt" und geht von einem positiven Effekt bei sportlichem Erfolg aus. "Wenn das Team seine WM-Spiele gegen Wales und die USA erfolgreich bestreiten sollte, wird sich dies euphorisierend auf die Fans auswirken." Sollte dann der Funke von Rängen auf die Mannschaft überspringen, würden "die Nationalspieler mutiger, um ihrem Protest gegen das Mullah-Regime zusätzlichen Ausdruck zu verleihen".
Die Tragweite des Schweigens
Das kollektive Schweigen der iranischen Nationalspieler beim Ertönen der Hymne hat hohe Wellen geschlagen, denn die Hymne steht in erster Linie für die Werte der Islamischen Republik Iran. Gemäß Wortlaut "möge die Islamische Republik ewig weiter existieren". Dies steht jedoch in eindeutigem Widerspruch zu den Parolen der Protestierenden im Iran, die den Fortbestand der Islamischen Republik kategorisch ablehnen und für einen freiheitlich-demokratisch konstituierten iranischen Staat kämpfen.
Aus der iranischen Politik werden die Spieler vor dem zweiten WM-Auftritt scharf angegangen. Bei dem Nichtsingen der Hymne handele es sich um eine sehr große Ignoranz der Nationalspieler. "Das hätte niemals passieren dürfen", sagte der iranische Parlamentsabgeordnete Ali Motahari. Die Nationalspieler im Iran seien dem System der Islamischen Republik untergeordnet und hätten sich entsprechend zu verhalten. Außerdem stehe es ihnen nicht frei, individuelle Standpunkte zu vertreten. "Schande über das Sportministerium und den Minister, der solche Leute als Vertreter der Islamischen Republik zur WM schickt", sagte der konservative Politiker.
Eine große Mehrheit der iranischen Bürgerinnen und Bürger identifiziert sich nicht oder nicht mehr mit den Inhalten der aktuellen Hymne. Daher wird diese aus der Sicht der meisten Iranerinnen und Iraner nicht als ihre eigentliche Nationalhymne gesehen. Videos in sozialen Medien zeigen iranische Fans nach dem Spiel gegen England vor dem Al-Khalifa-Stadion, wie sie die alte, traditionelle Nationalhymne Irans singen.
Mögliche Konsequenzen
Das Schweigen während der Hymne der Islamischen Republik dürfte zunächst keine schwerwiegenden Konsequenzen für die Profis haben. Die betroffenen Nationalspieler könnten vom Regime zukünftig ignoriert werden und ihr familiäres Umfeld möglicherweise staatlich gesteuerten Belästigungen ausgesetzt werden.
Die regimetreue Presse wird die Nationalspieler jedoch ab sofort negativ darstellen. Die ultrakonservative Tageszeitung "Keyhan" gilt als der verlängerte und propagandistische Arm von Staatsoberhaupt Ali Khamenei und rügte die eigenen Nationalspieler nach dem England-Spiel: "Manche Mitglieder der Nationalmannschaft waren ohne Stolz und haben die Hymne nicht mitgesungen. Iran hat gegen die Allianz aus England, Israel, Saudi-Arabien nebst inländischen und ausländischen Verrätern mit 2:6 verloren."
Zensur durch Staatsfernsehen und FIFA
Der iranische Staatsfernsehsender "IRIB" unterbrach die Live-Übertragung des WM-Spiels gegen England umgehend, als das demonstrative Schweigen der Nationalspieler bei der Hymne ersichtlich wurde. Zudem zensierte der regimetreue Rundfunk jegliche Bilder mit weiblichen Fans im Stadion. Als obendrein die iranischen Fans während des Spiels weitere Parolen in Richtung der eigenen Spieler skandierten und diese als "ehrenlos" bezeichneten, wurde in der iranischen Übertragung auch der Originalton aus dem Stadion heruntergepegelt.
Ebenfalls war nicht zu hören, wie die regimekritischen Nationalhelden und Ex-Fußballer Ali Karimi und Ali Daei von den Fans mit entsprechenden Rufen gefeiert wurden. Auch in den von der FIFA produzierten internationalen TV-Bildern des Spiels zwischen Iran und England wurden Protestaktionen von Fans und Spielern, die vor dem Anpfiff der Partie mit schwarzen Armbinden einen Mannschaftskreis bildeten, nicht gezeigt. Stattdessen gab es - wie so oft - jubelnde Fans auf den Rängen des Stadions zu sehen.
Brisanz vor den kommenden Spielen
Die Situation rund um das Team bleibt vor den verbleibenden Gruppenspielen gegen Wales und die USA brisant. Irans portugiesischer Trainer Carlos Queiroz betrachtet die Fans als mitverantwortlich für das Scheitern im Auftaktspiel. Provokativ betonte er: "Es wäre besser, dass unsere Fans zu Hause bleiben, wenn sie uns bei der WM nicht unterstützen wollen."
Die Aussage entfachte umgehend eine große Empörung in der iranischen Fußballgemeinde. Der ehemalige Fußball-Nationaltrainer Irans, Mohammad Mayeli-Kohan, entgegnete Queiroz: "Es steht Queiroz nicht zu, die iranischen Fans zu bevormunden. Er ist allein verantwortlich für die hohe Niederlage gegen England."
Ähnlich wie Queiroz äußerte sich der regimetreue IRIB-Sportmoderator Javad Khiyabani nach dem misslungenen WM-Auftakt: "Die Nationalmannschaft genießt grundsätzlich keine Wertigkeit, wenn sie nicht von der eigenen Bevölkerung unterstützt wird. Der Hauptgrund für das Scheitern der iranischen Nationalmannschaft gegen England ist die fehlende Rückendeckung durch die Landsleute."
Die Motivation hinter seiner Aussage dürfte aber im Gegensatz zu der von Trainer Quieroz nicht rein sportlich sein. Das iranische Team hat einen Weg eingeschlagen und bekommt gegen Wales (Freitag, 11 Uhr MEZ) und die USA (Dienstag, 20 Uhr) erneut die Chance, eine Versöhnung mit den eigenen Anhängern voranzutreiben.