Irans stiller Protest gegen das Regime
21. November 2022
Aus den Lautsprechern des Khalifa Stadions dröhnte die iranische Nationalhymne in voller Lautstärke. In wenigen Augenblicken würde bei der Fußball-WM die Partie Iran gegen England beginnen. Unten auf dem Platz herrschte dagegen Ruhe. Die Lippen der iranischen Spieler blieben fest aufeinandergepresst, ihre Augen starr nach vorne gerichtet. Keiner sang mit, demonstrativ. Vielen Fans auf der Tribüne schossen daraufhin die Tränen der Rührung in die Augen, denn mit der Verweigerung des Singens der Hymne stellte sich das "Team Melli", wie Irans Nationalmannschaft genannt wird, auf die Seite der Menschen, die im Iran seit Wochen für ihre Freiheit kämpfen und gegen das Mullah-Regime, das mit roher Gewalt gegen die Proteste vorgeht.
"Das Umfeld meiner Spieler ist nicht ideal, was Engagement und Konzentration angeht, und sie sind von diesem Problem betroffen", sagte Irans Nationaltrainer Carlos Queiroz. "Sie sind menschliche Wesen, sie sind Kinder. Und man kann nur erahnen, was diese Kinder in den letzten Tagen durchgemacht haben, nur weil sie auch als Spieler ihre Meinung sagen wollen."
"Ich bin glücklich, hier zu sein"
So ruhig wie während der Hymne war es wenige Stunden zuvor rund um das Stadion nicht, im Gegenteil: Bereits in den Katakomben der Metro-Station "Sport City" waren die eintreffenden Fans nicht zu überhören. Zahlreiche Menschen aus England und dem Iran bahnten sich gemeinsam den Weg durch den langen Tunnel bis zum Ausgang am Khalifa Stadion, dem Ort, an dem das zweite WM-Spiel stattfinden sollte. Mit lauten "Iran, Iran"-Rufen machten die Fans auf sich aufmerksam - und deutlich, dass es bei diesem WM-Spiel nicht nur um den sportlichen Erfolg ging.
"Es ist das erste Mal, dass ich die Weltmeisterschaft erlebe, und ich bin sehr glücklich, hier zu sein", sagt Fatima im DW-Interview. "Im Iran ist es Frauen nicht erlaubt, ins Stadion zu gehen. Das ist das erste Mal, dass mein Bruder und ich gemeinsam ins Stadion gehen." Schnell versammelten sich die iranischen Fans vor dem Stadion. Männer, Frauen, Kinder - einige im Trikot, andere mit Schminke im Gesicht. Manche trugen T-Shirts mit der Aufschrift "Women, Life, Freedom" oder "Freedom for Iran", um ihre Solidarität mit den Menschen im Iran zu zeigen, die gerade um ihr Leben fürchten müssen, weil sie auf der Straße für ein freies, unabhängiges Leben kämpfen.
Erwartungen an "Team Melli"
"Ich bin nur für den Iran hier, für mein Volk und nicht für das iranische Regime. Wir hassen das iranische Regime", sagt Rosita und wird deutlich: "Das iranische Regime tötet uns. Ich bin hier, weil sie unsere Kinder getötet haben." Doch es gibt auch die Menschen, die nicht nach Katar gekommen sind, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen. "Wir sind hier als Fußballfans versammelt, um das Spiel zu genießen und nicht, um über die Geschehnisse im Iran zu sprechen", sagt Abdallah ins DW-Mikrofon.
Im ausverkauften Khalifa Stadion warteten dann alle auf ein Zeichen der Spieler auf dem Platz, eben der Vertreter des von den meisten Menschen so verachteten Regimes. Aref, der gemeinsam mit seiner Frau im Stadion war, forderte von den Spielern des "Team Melli" ein klares Zeichen. "Die Spieler sollten etwas tun. Auch wenn es für sie gefährlich ist", sagt der Iraner. Naima, die sich die iranische Flagge auf die Wange gemalt hatte, ergänzt: "Wir erwarten von ihnen, dass sie heute ein Zeichen setzen."
Große Freude im Januar
Nur wenige Monate zuvor war die Situation rund um die Nationalmannschaft noch eine komplett andere. Nach der erfolgreichen Qualifikation zur WM kannte die Freude im heimischen Azadi Stadium keine Grenzen. Offensivspieler Saman Ghoddos rannte mit der iranischen Nationalflagge in den Händen zu seinen Mitspielern, und das ganze Team feierte gemeinsam mit den Fans. Den 1:0-Siegtreffer gegen den Irak hatte Mehdi Taremi vom FC Porto erzielt und damit für die sechste Teilnahme des Irans an einer WM-Endrunde gesorgt. Dementsprechend groß war die Freude. In Irans Hauptstadt Teheran schwenkten Menschen Fahnen, sangen und tanzten auf den Straßen.
Diese Szenen wirken wie aus einer längst vergangenen Zeit - der Zeit vor den Protesten, die das Bild des Irans seither dramatisch verändert haben. In vielen Städten gehen die Menschen auf die Straße und protestieren gegen das Mullah-Regime. Ausgelöst wurde die revolutionären Freiheitsbewegung durch den Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini, die Mitte September in Polizeigewahrsam gestorben war. Die "Sittenpolizei" hatte sie verhaftet, weil ihr Kopftuch nicht korrekt saß. Seitdem gehen vor allem Frauen auf die Straße und fordern ein Ende des Regimes, das sie seit 43 Jahren unter anderem dazu zwingt, sich zu verschleiern und das sie als Bürgerinnen zweiter Klasse bewertet.
Azmoun: "Schande über euch"
Die Proteste gingen selbstverständlich auch an den Nationalspielern nicht spurlos vorbei. "Wir müssen akzeptieren, dass die Bedingungen in unserem Land nicht stimmen und unsere Leute nicht glücklich sind", so Ehsan Hajsafi, der Kapitän der iranischen Nationalmannschaft im Vorfeld der WM. Hajsafi solidarisierte sich mit den Demonstrierenden. Andere Spieler taten das nicht, immer noch soll das "Team Melli" gespalten sein, weil nicht alle die Proteste in ihrer Heimat unterstützen. Und die, die öffentlich Kritik äußern, wie der Leverkusener Sardar Azmoun oder Kapitän Hajsafi, liefern sich und ihre Familien damit möglicherweise dem Zorn der Staatsmacht aus und riskieren teils dramatische Konsequenzen. Wie die iranische Kletterin Elnaz Rekabi, die einen internationalen Wettkampf ohne Kopftuch bestritt und laut einem Medienbericht im Iran unter Hausarrest stehen soll.
Vom ersten WM-Spiel der Iraner in Katar, das die Engländer klar mit 6:2 (3:0) für sich entschieden, werden andere Dinge im Gedächtnis bleiben als die Gegentore. Neben der eindrucksvollen Geste bei der Hymne ist es zum Beispiel die Einwechslung von Sardar Azmoun: Der Stürmer von Bayer Leverkusen hatte sich lange vor der WM in zahlreichen Social-Media-Post klar auf die Seite der Freiheitsbewegung und gegen das Regime gestellt. "Schande über euch, die ihr so leicht Menschen tötet. Lang leben die iranischen Frauen", schrieb Azmoun unter anderem. Entsprechend laut war daher der Jubel, als er in der 77. Spielminute gegen England auf das Feld lief.