Prinzip Hoffnung
26. April 2008Auf einer der Hauptstraßen, dem Lenin-Prospekt, holpert der Kleinbus mit ausländischen Touristen ins Zentrum von Pripjat, vorbei an zerbröckelnden Plattenbauten mit leeren Fensterhöhlen. Es ist eine Fahrt durch eine Geisterstadt: Seit 22 Jahren ist die Stadt der Kraftwerks-Mitarbeiter von Tschernobyl verlassen. Früher lebten hier 50.000 Menschen.
Eine Geisterstadt
Wilde Rosenbüsche wuchern über die Straße. Auf einem Balkon im sechsten Stock wächst eine Birke. Meterhoch wuchert Unkraut auf den Bürgersteigen. Auf dem Festplatz rostet ein Riesenrad. Es war 1986 für die Feiern zum 1. Mai aufgebaut worden. Doch dann explodierte der vierte Reaktorblock von Tschernobyl. Und Pripjat wurde komplett geräumt. Fast 50.000 Menschen verloren ihr Zuhause, unter ihnen auch Viktor Haidak und seine Familie. Der ehemalige Kraftwerksingenieur wird im nächsten Monat 68 Jahre alt. Sein Werksausweis von früher zeigt einen gesunden, kräftigen Mann. Heute ist Viktor nur noch ein Schatten seiner selbst:
"Ich hatte zwei Herzinfarkte und eine Krebsoperation. Früher wog ich gut 100 Kilo, jetzt nur noch 66. Mir geht es schlecht und ich zähle jeden Tag, jeden Monat, den ich lebe."
Der schmächtige Mann sitzt im Wohnzimmer seiner Drei-Zimmer-Wohnung im Kiewer Stadtteil Trojeschjna. 1986 wurden hier Tausende Pripjat-Umsiedler einquartiert. Das Neubauviertel war gerade fertig geworden. Seit dem Unglück lebt Viktor Haidak hier mit seiner Ehefrau Lidia, dem jüngsten Sohn Nikolaj und der Familie seiner älteren Tochter. Insgesamt sind es sechs Personen auf 42 Quadratmetern. Viktor und seine beiden älteren Söhne, die in der Nähe wohnen, haben bei den Aufräumarbeiten in Tschernobyl geholfen. Alle drei sind heute schwer krank. Ein Schicksal, dass sie mit Tausenden teilen.
Das Erbe von Tschernobyl ist die Krankkeit
"In unserem Haus wohnten 36 Familien aus Pripjat. Jetzt leben noch 11 Männer von diesen Familien. Vier Männer sind sehr krank, fast alle haben Krebs", sagt Viktor Haidak.
Umgerechnet 130 Euro Invalidenrente bekommt er. Das ist der Höchstsatz. Als vor zwei Jahren sein Magenkrebs operiert wurde, sammelte die Familie Geld bei Verwandten, um das Krankenhaus zu bezahlen. Vom ukrainischen Staat würden die Opfer vergessen, klagt Viktor. Oft träumt er von Pripjat. Von seinem alten Leben, einer heilen Welt vor dem Unfall.
Im letzten Jahr besuchte die Familie die stark verstrahlte 30-Kilometer-Sperrzone, die um den Unglücksreaktor herum eingerichtet wurde. 70 Dörfer gab es früher auf dem Gebiet, das so groß wie Luxemburg ist. Inzwischen sind einige hundert Menschen dorthin zurückgekehrt. Die Behörden dulden sie. Trotz der Strahlung wollen die Alten dort ihre letzten Jahre verbringen.
"Nichts ist mehr, wie es war"
Die Haidaks haben das Grab von Viktors Vater besucht, das alte Wohnhaus fotografiert, die Klinik, in der Sohn Nicolaj auf die Welt kam. Seine Frau Lijdja erinnert sich an die Reise: "Es war sehr merkwürdig. Nichts ist mehr, wie es war. Alles ist gestohlen worden - es ist ein furchtbarer und merkwürdiger Ort. Nichts Lebendes ist dort geblieben.“
Doch die Haidaks geben nicht auf. Das Leben geht weiter: Nikolaj war noch ein Säugling, als der Reaktor explodierte. Schon als Baby musste er Krebsbehandlungen über sich ergehen lassen. Jetzt studiert der 22-Jährige Informatik. "Ich will Computer-Programmierer werden und arbeite nebenbei als System-Administrator, um mein Studium zu finanzieren. Ich bin krank, aber versuche nicht immer daran zu denken - um zu leben, um zu überleben."
Genetische Schäden werden noch viele Generationen von Tschernobyl-Nachkommen belasten. Auf dem Arm hält Nikolaj seine kleine Nichte. Auch die Zweijährige ist nicht gesund. Nadeschda haben ihre Eltern sie genannt. Auf Russisch heißt das: Hoffnung.