Polen/Ungarn: "Politischer Angriff und Erpressung"
21. Juli 2021Böser Wille, Erpressung, politischer Angriff, Messen mit zweierlei Maß - so lauten in Polen und Ungarn die Kommentare von Regierungspolitikern, nachdem die EU am Dienstag (20.07.2021) in Brüssel ihren zweiten Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedsländern vorgestellt hat. Der Bericht bezeichnet vor allem die Situation in Polen und Ungarn als sehr problematisch. Die Kommission fordert von beiden Ländern unter anderem Justizreformen und einen entschiedeneren Kampf gegen Korruption - andernfalls sollen EU-Fördergelder nicht ausgezahlt werden. Oppositionspolitiker in beiden Ländern begrüßen den Rechtsstaatsbericht.
In Polen erhält der Bericht besonderes Gewicht dadurch, dass die EU-Kommission das Land ultimativ auffordert, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur umstrittenen Disziplinarkammer umzusetzen, die gegen missliebige Richter vorgeht. Bis Mitte August erwartet die Kommission dazu eine Antwort der polnischen Regierung, andernfalls drohen dem Land hohe finanzielle Sanktionen.
Der polnische Vize-Justizminister Sebastian Kaleta forderte nach der Vorstellung des Berichts ein Ende des Dialogs mit der EU-Kommission. Er dauere seit drei Jahren an und habe nichts gebracht: "Die Europäische Kommission handelt bösen Willens, verletzt die EU-Regeln und ignoriert die polnische Verfassungsordnung. Weitere Einladungen zu Gesprächen sind eine Legitimation für diese Aktionen", so Kaleta.
"Missachtung des Verfassungsgerichts"
Nach Lesart der Regierung, des polnischen Verfassungsgerichts und zuletzt auch der Vorsitzenden des Obersten Gerichts, Malgorzata Manowska, verstoßen europäische Urteile, die in das polnische Justizsystem eingreifen, gegen die Verfassung des Landes und sind somit unwirksam. Die frühere Premierministerin Beata Szydlo nannte das Ultimatum der Kommission eine Missachtung des Verfassungsgerichts - obwohl sie selbst in ihrer Regierungszeit den umstrittenen Umbau des Gerichts absicherte, indem sie ein Urteil dagegen nicht im Gesetzes-Anzeiger veröffentlichen ließ; seither gilt es als befangen.
Die EU-Verträge "legen ausdrücklich fest, welche Zuständigkeiten an die EU delegiert werden und welche in der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder verbleiben", meinte Regierungssprecher Piotr Müller in unmittelbarer Reaktion auf die neuerliche Kritik aus Brüssel. Die geltenden Rechtsregeln in Polen seien denen in anderen EU-Ländern ähnlich.
Müller versprach gleichwohl, die Warschauer Regierung werde die neuen Dokumente aus Brüssel prüfen und "einen angemessenen Dialog mit der Europäischen Kommission führen". Es gebe "Meinungsverschiedenheiten", die geklärt werden müssten.
"Sturheit, die uns viel kosten wird"
"Der Polexit wird langsam zur Tatsache", schrieb dagegen Borys Budka, ein führender Politiker der liberalen Oppositionspartei "Bürgerplattform" auf Twitter. Die PiS-Regierung habe nun einen Monat Zeit, die Disziplinarkammer wieder aus der polnischen Rechtsordnung zu entfernen. "Danach werden wir alle für Kaczynskis Wahnsinn zahlen, aus unseren Steuern. "
Auch Budkas Parteichef Donald Tusk sprach von einer "Sturheit, die uns viel kosten wird". Die Regierungspartei PiS verstoße gegen polnische Interessen, wenn sie "die elementare Ordnung des Rechtsstaats in Polen nicht wieder aufbauen will". Er betonte, die EU, in der höchste Standards der Rechtsstaatlichkeit gelten würden, sei auch dafür da, in Polen diese Standards zu bewahren.
Der Rechtsexperte Robert Greszczak von der Universität Warschau meinte im Privatsender TVN allerdings, er könne sich kaum vorstellen, dass die Regierung nun von dem abrückt, was ihr so wichtig war: die Kontrolle der Justiz. "Und dann rollt der Ball wieder zurück zur EU."
Keine EU-Fördermittel mehr
Marek Grela, Polens erster Botschafter bei der EU, hält das Vorgehen der Regierung für unvereinbar mit der polnischen Verfassung. "Wegen Polen besorgte Mitgliedsstaaten haben die Kommission seit langem gedrängt, den fruchtlosen Dialog mit Polen zu beenden und zum Handeln überzugehen." Genau diese Entscheidung sei nun getroffen worden. Es werde keine EU-Fördermittel mehr geben, wenn die PiS-Regierung ihre Position zur Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit nicht ändere, warnt der Diplomat.
Ähnliches droht auch Ungarn. Zwar stellt die EU-Kommission dem Land kein Ultimatum wie Polen. Doch sie fordert Justizreformen, einen strengeren Kampf gegen Korruption und Verbesserungen bei der Pressefreiheit. Mit konkreten finanziellen Sanktionen will Brüssel Ungarn derzeit nicht belegen, allerdings will die EU-Kommission die Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds vorerst nicht auszahlen.
"Mittel zur Erpressung Ungarns"
Ungarns Justizministerin Judit Varga bezeichnete den Bericht auf ihrer Facebook-Seite und in einem Interview mit der Tageszeitung Magyar Nemzet als "voreingenommen, politisch motiviert und sachlich niveaulos", als "vorbehaltlose Wiedergabe von Meinungen gegenüber unserer Heimat negativ eingestellter Nicht-Regierungsorganisationen" und als "Mittel zur Erpressung Ungarns". Brüssel messe erneut mit zweierlei Maß, da sich die Kommission im Fall Ungarns sehr ausführlich mit Themen befasse, die bei anderen Ländern nicht einmal nominell erwähnt werden würden.
Die Justizministerin bezog sich auch auf das umstrittene und kürzlich in Kraft getretene Gesetz, mit dem Homosexualität praktisch auf eine Stufe mit Pädophilie gestellt wird. Ungarns Rechtsstaatlichkeit, so Varga, werde von Brüssel insbesondere deshalb in Zweifel gezogen, weil die Regierung die Rechte von Kindern und Eltern in höchstem Maße schütze. Brüssel habe ein Problem damit, "dass wir LGBTQ-Aktivisten und sexuelle Propaganda in Schulen und Kindergärten nicht zulassen".
Referendum gegen LGBTQ-Propaganda
Ungarische Oppositionspolitiker begrüßten den Bericht. Der sozialistische Europaabgeordnete Istvan Ujhelyi etwa sprach davon, dass die EU-Kommission Viktor Orban "nun Schach geboten hat". Dass die ungarische Regierung Konsequenzen aus dem Bericht zieht und Forderungen der EU umsetzt, ist eher unwahrscheinlich. Eine Anfrage der DW dazu ließ ein Regierungssprecher unbeantwortet.
Ungarns Premier selbst reagierte noch nicht direkt auf den Rechtsstaatsbericht. Allerdings kündigte er in einem Facebook-Video am Mittwoch vormittag (21.07.2021) an, dass die Regierung ein Referendumüber den Schutz der ungarischen Kinder vor LGBTQ-Propaganda abhalten werde. Grund dafür seien die schwerwiegenden Angriffe der "Brüsseler Bürokraten" auf Ungarn in den vergangenen Wochen. Deshalb habe die ungarische Regierung keine andere Wahl, als ein solches Referendum abzuhalten.