Pokerspiel über Folgekosten für Atommüll
4. Februar 2015Deutsche Welle: Herr Müller, die deutschen Energiekonzerne haben Rückstellungen von rund 37 Milliarden Euro gebildet. Mit diesem Geld soll der Abriss der Atomkraftwerke und die Endlagerung des Atommülls finanziert werden. Reicht das?
Genau beantworten kann das niemand. Nach konservativen Schätzungen wird der Betrag jedoch deutlich über 37 Milliarden Euro liegen.
Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Kosten für den Abriss von Atomkraftwerken fast doppelt so hoch liegen wie bisher angenommen. Und die Höhe der Kosten für die Endlagerung ist noch unklar. Die Art des Endlagerung ist noch nicht entschieden. Auch ist unklar, ob der Atommüll so gelagert werden soll, dass er zu einem späteren Zeitpunkt zurückgeholt werden kann. Aber die einfache Kostenberechnung der Vergangenheit wird sicherlich nicht ausreichen.
Atomenergie ist also teurer als gedacht?
Mit Tschernobyl und Fukushima ist das erste Versprechen zusammengebrochen, dass Atomkraft sicher sei. Jetzt sieht man die zweite Schattenseite. Nach Abschaltung aller deutschen Atomkraftwerke bis 2022 muss es für eine Million Jahre ein sicheres System für die Einlagerung des Atommülls geben, also bis zum Jahr 1002022. Beim Start der Atomenergie 1955 hat das keiner bedacht.
Die Energiekonzerne verdienen immer weniger Geld mit ihren Kohle- und Atomkraftwerken. Eines Tages könnten die Konzerne pleite gehen. Wie sicher sind die gebildeten Rückstellungen?
Bis vor ein paar Jahren verdienten die Konzerne noch kräftig mit den Atomkraftwerken. Jetzt hat sich die Situation erheblich verschlechtert, und das ist ein Problem. Die Konzerne bauen Personal ab. Sie haben die Energiewende weitgehend verschlafen und nicht ernst genommen.
Die Konzerne sagen, dass sie die Summen sicher hätten. Ich gehe davon aus, dass die Aussagen stimmen. Aber es muss Klarheit geschaffen werden.
Was ist ihr Vorschlag, damit die Rückstellungen sicher zur Verfügung stehen?
Ähnlich wie in der Schweiz sollen die Mittel nicht bei den Energieunternehmen bleiben. Alle Rücklagen sollten in eine öffentliche Stiftung überführt werden. Ich sehe bei den Unternehmen eine gewisse Bereitschaft, diesbezüglich eine Stiftung oder einen Fonds zu bilden. Allerdings wird es noch ein Pokerspiel über die Höhe der Summe geben.
Auf welche Resonanz stößt ihr Vorschlag in der Politik?
Die Politik weiß, dass die Fragen schnell geklärt werden müssen. Der Aufbau der Atomenergie wurde zwischen 1960 und 1980 mit viel Geld vom Staat finanziert. Das Schlimmste wäre für alle, dass jetzt auch noch die Beseitigung des Atommülls vom Staat bezahlt würde. Das kann nicht sein.
Die Unternehmen hatten eine lukrative Gewinnphase. Es wäre nicht vertretbar, wenn am Anfang und am Ende nur die öffentliche Hand die Hauptverantwortung trägt.
In Deutschland wächst die Erkenntnis, dass Atomkraft sehr viel teurer als gedacht ist. Wie sehen Sie die Diskussion in anderen Ländern?
Sehr unterschiedlich. Das eigentliche Problem ist die fehlende Reflexion über diese Technik. Die Kernspaltung wurde 1938 in Deutschland erfunden. Am Anfang gab es den Wettlauf um die Atombombe zwischen USA, Hitler-Deutschland, Russland und Japan. Dann kamen die Verheißungen eines goldenes Zeitalters durch die zivile Nutzung, dann die Debatte um die Energielücke. Aber nirgendwo wurde eine ernsthafte Diskussion über die Folgen geführt.
Und der Tatbestand ist, dass in keinem Land der Welt eine sichere Endlagerung vorhanden ist. Manche Länder kümmern sich überhaupt nicht darum. Im Augenblick gibt es nur interessante Endlagerprojekte in Europa: in Skandinavien, Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Und dann hört es schon auf.
Ist es ein Fehler, dass wir Menschen zu wenig über die Folgen nachdenken?
Es gab lange Zeit den Glauben, dass Probleme mit neuer Technik bewältigt werden könnten. Heute erleben wir auch beim Klimawandel und in der Gentechnik, dass wir Prozesse mit enormen Folgen anstoßen. Diese Folgen haben wir nicht beachtet.
Dieses Problem wird durch kurzfristige Entscheidungen noch verschärft. Heute werden fast alle Entscheidungen unter dem Druck der kurzen Perspektive gefällt. Deshalb müssen wir Mechanismen einführen, die die langfristigen Folgen einbeziehen, um so zu einem höheren Grad an Weitsicht zu kommen.
In Deutschland gibt es zwar eine Debatte über die Folgen der Energienutzung. Aber das ist eher eine Geheimdebatte. Sie müsste stattdessen öffentlich geführt werden.
Michael Müller ist seit April 2014 Vorsitzender der Kommission zur Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe. Die Kommission wurde von Bundestag und Bundesrat eingesetzt und soll bis Ende 2015 einen umfassenden Bericht mit Empfehlungen zur Lagerung radioaktiver Abfallstoffe geben.
Das Interview führte Gero Rueter.