Ohne Meldeadresse - Wie Serbien seine Albaner diskriminiert
9. Juli 2024Als Safet Demiri im August 2019 die Registrierung seiner Geschäftsautos erneuern lassen wollte, erlebt er eine böse Überraschung: "Sie befinden sich gar nicht mehr im Melderegister", sagte ihm der Behördenmitarbeiter in seiner südserbischen Heimatstadt Medvedja. "Ich fiel aus allen Wolken", erinnert sich Demiri im Gespräch mit der DW. Der Geschäftsmann pendelt zwischen seiner Geburtsstadt in Serbien, wo er unter anderem ein Tourismusressort und eine Telekommunikationsfirma besitzt, und der österreichischen Hauptstadt Wien, wo er als Bauunternehmer tätig ist. Doch seit Sommer 2019 ist er in seiner Heimatstadt, wo seine Familie seit mehr als 200 Jahren ansässig ist, nicht mehr gemeldet. Und das gegen seinen Willen.
Seine Frage, wie er nun, ohne Meldeadresse und ohne Autos, seinen Geschäften in Medvedja nachgehen solle, hätten die Beamten nur mit einem Schulterzucken beantwortet. Demiri musste zu einer Notlösung greifen und seine Autos auf seinen Vater anmelden. Denn seine Rechte bekam er bis heute nicht zurück. Auch eine Klage vor dem Verwaltungsgericht in Nis half nichts. Sein Wohnort sei im Ausland, seine Löschung aus dem Register daher rechtens, so der Entscheid. "Hinter vorgehaltener Hand sagten sie mir, das sei ein Befehl von oben", erzählt der 46-Jährige. Er teilt damit das Schicksal Tausender aus dem mehrheitlich albanisch bewohnten südserbischen Presevo-Tal. Immer mehr Menschen dort verschwinden plötzlich aus dem Melderegister.
Passivierung - Fast nur Albaner betroffen
Grund dafür ist die ethnische Zugehörigkeit, sagt die Wissenschaftlerin Flora Ferati-Sachsenmaier von der Universität Göttingen. Sie stammt selbst aus der Region und verfasste Anfang 2023 eine Untersuchung, die das Max-Planck-Institut in Göttingen2023 veröffentlichte. Entdeckt hat die Friedensforscherin das Phänomen ganz zufällig im Jahr 2016, als sie für ein anderes Projekt in der Region war. "Jeder zweite Albaner, mit dem ich sprach, sagte zu mir: 'Die Behörden löschen uns aus dem Melderegister'", sagt Ferati der DW. Bei ihren Forschungen fand sie heraus, dass dahinter ein System steckt.
Die serbischen Behörden nennen es "Passivierung": Stellen sie fest, dass jemand nicht mehr an der gemeldeten Adresse wohnt, wird die Person aus dem Melderegister gelöscht, erklärt Ferati. Die Feststellungen sind jedoch sehr willkürlich; es werden auch Menschen erfasst, die im Urlaub oder auf einer Auslandsreise sind. Eine Wiederanmeldung gelingt in der Regel nicht. Die Löschung hat schwerwiegende Konsequenzen für die Betroffenen, zum Beispiel, was den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Reisepässen und Krankenversicherung angeht.
Reduzierung der albanischen Minderheit als Ziel
Das Ziel ist es, die albanische Bevölkerung in Südserbien zu reduzieren. Denn, wie die Max-Planck-Studie belegt: "Während im Presevo-Tal etwa zehn Prozent der Bevölkerung betroffen sind, machen Passivierungsfälle in anderen Regionen Serbiens, wenn sie überhaupt vorkommen, weit weniger als ein Prozent der jeweiligen Bevölkerung der Kommunen aus", so Ferati-Sachsenmaier.
Besonders problematisch wird es für die Albaner, die seit dem Krieg 1999 in Kosovo leben und arbeiten, sagt Enver Haziri, der im Nachbarland ein Büro für die Angelegenheiten derjenigen Albaner leitet, die aus dem Presevo-Tal stammen. Die meisten von ihnen wurden bei Kriegsende Juni 1999 aus ihrer Heimat vertrieben, als die von der NATO zum Rückzug gezwungene serbische Armee ihre Wut an der albanischen Minderheit in Südserbien ausließ. In Kosovo wurden die Vertriebenen zwar aufgenommen - aber nie offiziell registriert. Durch die Passivierung werden sie quasi staatenlos und noch mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt. "Sie sind zwar moralisch willkommen, aber sie werden weder als Flüchtlinge anerkannt noch bekommen sie die kosovarische Staatsangehörigkeit", sagt Haziri. Erst die Regierung von Albin Kurti versucht, die Lage zu ändern und die Menschen mit Aufenthaltstiteln auszustatten.
Albaner in Südserbien - eine marginalisierte Minderheit
Das serbische Helsinki-Komitee für Menschenrechte bezeichnete die Passivierung der Adressen in einer Studie als administrative ethnische Säuberung. Etwa 60.000 Albaner leben im Presevo-Tal, zu dem neben Medvedja auch die Gemeinden Bujanovac und Presevo gehören. Obwohl sie die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen und Serbien die Minderheiten-Konventionen des Europarats unterschrieben hat, werden Albaner systematisch marginalisiert, sagt Shaip Kamberi, der einzige albanische Politiker, der es bis ins serbische Parlament geschafft hat. Belgrad habe sich als EU-Aufnahmekandidat dazu verpflichtet, die Repräsentation der albanischen Minderheit in den öffentlichen Institutionen zu verbessern.
"Passivierung ist da nur eine der Diskriminierungsmaßnahmen", sagt Kamberi. "Wir werden im öffentlichen Leben nicht integriert, oft werden potenzielle ausländische Investoren daran gehindert, bei uns zu investieren. Und was das Leben in der Region auch schwer macht, ist die Militarisierung des Gebiets, die immer weiter voranschreitet." Zum Beweis zeigt der Abgeordnete eine Karte mit 48 serbischen Militärbasen an der Grenze zu Kosovo. Die meisten sind im Presevo-Tal angesiedelt.
Besorgnis in Berlin
Kamberi war vor kurzem in Berlin, um die Bundesregierung und das Parlament für das Thema zu sensibilisieren. Bundestagsabgeordnete, die er getroffen hat, sind besorgt über die Lage. Knut Abraham von der CDU/CSU erklärte auf Anfrage der DW: "Ich fordere die Botschaften der EU-Mitgliedsstaaten in Belgrad auf, der Lage besondere Aufmerksamkeit zu widmen und das Gespräch darüber mit Vertretern der Minderheit zu suchen."
"Die Lage der albanischen Minderheit in Serbien verdient mehr internationale Aufmerksamkeit", so auch Thomas Hacker von der FDP. "Gegenwärtig ist der Fokus zu stark auf den Dialog zwischen Belgrad und Pristina gerichtet. Dabei geraten aber andere, genauso wichtige Themen bedauerlicherweise in den Hintergrund." Der Prozess der Passivierung wirke wie ein schleichender Prozess der Entrechtung. Das Auswärtige Amt in Berlin appelliert seinerseits an alle Beteiligten, "im Einklang mit den Verpflichtungen eine transparente und gerechte Handhabung zu gewährleisten."
Die serbische Regierung und serbische Behörden leugnen zwar nicht, dass es Passivierungen gibt, bestreiten aber, dass dahinter eine Diskriminierung von Albanern in Serbien stecke. Im Dezember 2023 erklärte der damalige Minister für staatliche Verwaltung und lokale Selbstverwaltung, Aleksandar Martinovic, gegenüber serbischen Medien, dass die Deaktivierung von Wohnsitzen in Bujanovac, Presevo und Medvedja eine gesetzeskonforme Maßnahme darstelle und nicht diskriminierend sei. Auf eine aktuelle Anfrage der DW zum Thema reagierte die serbische Regierung bisher nicht.
Klagen wenig erfolgversprechend
Der Geschäftsmann Demiri und einige andere Albaner haben inzwischen Beschwerde beim Verfassungsgericht in Belgrad eingelegt. Sie rechnen fest damit, dass sie eine Absage bekommen und wollen dann weiter vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) klagen. Die Chancen, dass sie Recht bekommen, sind hoch. Ob das jedoch die Politik Serbiens gegenüber der albanischen Minderheit ändern wird, ist jedoch fraglich.
Anm.d.Red.: Wir haben den Artikel nachträglich aktualisiert und um eine Stellungnahme eines ehemaligen serbischen Ministers zum Thema ergänzt. Auf eine DW-Anfrage reagierte die serbische Regierung bisher nicht. Sobald diese vorliegt, ergänzen wir den Artikel.