Platzt das EU-Türkei-Abkommen?
10. Mai 2016Es hat sich einiges an Konfliktstoff angesammelt. Vergangene Woche kündigte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu seinen Rücktritt an. Er hat nicht nur das Abkommen mit Brüssel ausgehandelt, er gilt auch im Gegensatz zu Präsident Recep Tayyip Erdogan als europafreundlich. Dann wurden zwei regierungskritische türkische Journalisten zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie angeblich geheime Unterlagen veröffentlicht haben. Die Organisation Reporter ohne Grenzen spricht von einem "Urteil der Einschüchterung", der Deutsche Journalistenverband von "Willkürurteilen eines autokratischen Regimes".
Für das Europaparlament brachte dann eine Äußerung von Präsident Erdogan das Fass zum Überlaufen. Erdogan hat die Europäer wissen lassen, dass er gar nicht daran denkt, die heftig kritisierten Anti-Terror-Gesetze zu ändern. "Wir gehen unseren Weg, und Ihr geht Euren", sagte Erdogan. Die Gesetzesänderung ist eine der Brüsseler Bedingungen dafür, dass vom Sommer an alle Türken ohne Visum in die EU reisen können. Doch Erdogan hat des öfteren gedroht, wenn er die Visa-Liberalisierung nicht bekomme, könne er jederzeit wieder Flüchtlinge ungehindert nach Europa lassen.
Das Europaparlament blockt ab
Der zuständige Ausschuss für bürgerliche Freiheiten und Justiz im Europaparlament will sich davon nicht einschüchtern lassen. Er hat angekündigt, mit den Beratungen zur Visafreiheit so lange zu warten, bis die Türkei alle 72 Bedingungen erfüllt habe. "Und dazu gehören auch die Anti-Terror-Gesetze", so Guy Verhofstadt, Vorsitzender der Liberalenfraktion. "Wir liegen alle auf einer Linie." Und Gianni Pittella, Fraktionschef der Sozialisten, fügt hinzu: "Wir können Drohungen und Erpressungsversuche von Erdogans Türkei nicht hinnehmen." Philippe Lamberts, Kovorsitzender der Grünen, meint inzwischen zur Aussicht auf Visabefreiung für Türken: "Da habe ich meine Zweifel." Bleiben beide Seiten hart, könnte am Ende der gesamte Flüchtlingspakt scheitern.
Die Kritik am Flüchtlingsabkommen mit der Türkei kam von Anfang an sowohl von links als auch von rechts. Linke Politiker bemängeln die Menschenrechtslage in der Türkei. Man könne mit so einer Regierung keine Abkommen schließen, die zum Ziel haben, Flüchtlinge von Europa abzuhalten. Von der rechten Seite geht es eher darum, dass sich die EU nicht zu stark von der Türkei abhängig machen soll.
Doch auch der Liberale Verhofstadt setzt auf Eigenverantwortung: "Statt zu versuchen, diesen Deal mit der Türkei zum Funktionieren zu bringen, sollten wir lieber dafür sorgen, dass wir Ende Juni einen europäischen Grenzschutz aufgestellt haben." Die einzige Lösung, das Problem zu lösen, bestehe darin, "dass wir selbst unsere Hausaufgaben machen."
Konkret wurde jetzt der deutsche CDU-Bundestagsabgeordnete Karl-Georg Wellmann. In der Bild-Zeitung schlug er vor, Flüchtlinge, die von der Türkei auf die griechischen Inseln übersetzten, sollten dort bleiben und bei einer Ablehnung ihres Asylantrags direkt in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden: "Wir müssen in jedem Fall auch eigene Vorsorge treffen: Schutz der EU-Außengrenzen, Bearbeitung der Asylfälle vor Ort auf den Inseln - nicht auf dem Festland, Zurückweisung von illegalen Flüchtlingen."
Das gemeinsame Interesse bleibt
Janis Emmanouilidis von der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre kennt solche Ideen. Er hält sie gleichwohl für kaum durchführbar, jedenfalls sobald die Türkei größere Zahlen von Flüchtlingen zu den Inseln lassen würde: "Hätten wir wieder Zahlen wie im letzten Jahr oder noch Anfang dieses Jahres, kann ich mir kaum vorstellen, dass dann manche griechischen Inseln zu europäischen Internierungslagern werden", so Emmanouilidis gegenüber der Deutschen Welle. Weder die Griechen noch andere Europäer hätten ein Interesse daran.
Zu Zurückhaltung in der aufgeregten Debatte mahnt unterdessen Elmar Brok, CDU-Europa-Abgeordneter und Leiter des Auswärtigen Ausschusses im Straßburger Parlament. Im Deutschlandfunk sagte Brok: "Man sollte nicht über Plan B reden, wenn vorher Plan A nicht endgültig gescheitert ist." Bisher halte sich die Türkei an ihren Teil des Abkommens, was man an dem starken Rückgang der Flüchtlingszahlen sehen könne.
Erdogan selbst habe großes Interesse an dem Flüchtlingsabkommen. Scheitere die Visafreiheit an ihm, würde er sich in seinem Land sehr unbeliebt machen. Es sei bei Erdogan viel Rhetorik im Spiel. "Deswegen sollten wir die Nerven behalten."
Bei aller Kritik an der türkischen Regierung und am Abkommen mit ihr glaubt auch Janis Emmanouilidis nicht, dass eine der beiden Seiten einen Rückzieher bei der Vereinbarung machen wird. "Die Situation wird schwieriger. Aber es ist immer noch im Interesse von Erdogan, dass er einen Kompromiss schließt. Und das gleiche gilt auf europäischer Seite." Am Ende werde der Deal mit der Türkei umgesetzt, sagt er voraus, "und dazu gehört natürlich auch die Visafrage".