Die Grenzstadt und ihre Grenzen
30. Oktober 2015Der Hund an der Leine schnüffelt neugierig zwischen den von Unkraut bewachsenen Bahnschwellen, während Melanie von Wagen in Richtung Österreich blickt. Die Lehrerin aus Passau ist diesen Ausblick von der alten Donaubrücke bei Achleiten nicht gewohnt: Hinter der Polizeisperre warten hunderte Flüchtlinge stundenlang in der abendlichen Kälte, bis in einer der Passauer Notunterkünfte genügend Schlafplätze bereitstehen. "In den letzten Tagen sind die Straßen gesperrt. Um nach Hause zu kommen, müssen wir immer durch die Polizeikontrolle", sagt von Wagen. "Was ich hier sehe, erschreckt mich. Da war eine stillende Mutter am Wegrand, die Kinder liefen umher. Es sind bewegende Bilder."
Ihre 12-Jährige Tochter Jantje beobachtet solche Szenen täglich – auf dem Gelände ihrer Realschule sind Flüchtlinge in Zelten untergebracht, denn nicht alle in der Region passen in feste Unterkünfte. "Ich habe den Kindern einige meiner Kuscheltiere gegeben und sie waren ganz froh darüber", erzählt das Mädchen.
Das Thema prägt die Gespräche in der Stadt, auch in der Schule: "Manche finden, die Polizei solle die Menschen zurück nach Syrien schicken. Die sagen, die Flüchtlinge werden Passau verändern oder dass wegen denen der Dritte Weltkrieg kommt. Ich glaube daran nicht wirklich", sagt Jantje. Ihre Sportstunden finden regelmäßig statt, anders als in vielen Schulen, wo Turnhallen mit Feldbetten belegt waren oder es immer noch sind.
Geht's noch?
Die örtlichen Politiker sprechen von "Chaos" und "Ansturm". "Frau Merkel, Sie müssen das stoppen", ruft Josef Lamperstorfer (CSU), der Bürgermeister von Wegscheid an der österreichischen Grenze. Das gehe so vielleicht noch zwei Wochen, dann sei das Limit erreicht. Und der echte Winter komme erst noch. Sein Stellvertreter sagt, es sei nur eine Frage der Zeit, wann das erste Baby hier erfriere.
Allein am Donnerstag sind an den fünf Eintrittspunkten im Umkreis von Passau mehr als 6.500 Menschen eingetroffen. Etwas weniger als in den vergangenen Tagen. Doch sie könne höchstens 50 Menschen pro Stunde und Grenzübergang aufnehmen, sagt die bayerische Landesregierung. Lächerlich, sagen die Österreicher. Über den Balkan kämen Zigtausende. Die Realität hat die politischen Überlegungen längst überholt. Aus Wien und anderen Städten kommen über hundert Busse täglich – die werden einfach angekündigt, ohne dass jemand aus Österreich fragt: Geht es bei euch in Passau noch?
Polizeisprecher Frank Koller und seine Kollegen arbeiten seit Wochen in 12-Stunden Schichten. Trotzdem findet er die starken Begriffe unangebracht, mit der die Presse die Situation in Passau beschreibt. "Ich würde es nicht Chaos nennen. Aber natürlich sind wir sind hochbelastet, das ist eine Ausnahmesituation." Man fühle sich an das Hochwasser erinnert, das die Region alle paar Jahre an ihre Grenzen treibt. Nur: Der Donaupegel steigt und sinkt irgendwann wieder. Bei der Flüchtlingskrise sei kein Ende in Sicht.
"Die polizeilichen Einsatzkräfte können diese Situation ohne freiwillige Helfer gar nicht mehr stemmen. Wenn diese Ehrenamtlichen irgendwann nicht mehr können, dann haben wir ein Problem", sagt Koller. Dann zieht er seine Lederhandschuhe an und bewegt sich zur Seite, um Platz für die nächste Gruppe von Flüchtlingen zu schaffen, auf die ein Bus nach Passau wartet. Bis Mitternacht könne es dauern, bis der Grenzübergang bei Achleiten wieder leer sei. Nach einer Übernachtung werden die Flüchtlinge schon morgen auf die Bundesländer verteilt, um Platz für neue zu schaffen.
Immerhin: Am Freitagabend wurde ein kleiner Hoffnungsschimmer bekannt. Deutschland und Österreich haben sich auf ein Verfahren zur Bewältigung der Flüchtlingsströme an der Grenze verständigt, wie eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums in Berlin mitteilte. An der Grenze zu Bayern gibt es demnach ab sofort fünf Übergabe- und Kontrollstellen. Damit wolle man zu einem "strukturierten und geordneten Verfahren" zurückkehren. Lange Wartezeiten wie in den vergangenen Tagen sollten so vermieden werden.
Der Komiker kommt
Auf der elektronischen Anzeigetafel der Dreiländerhalle in Passau warten dennoch gleich zwei unerfreuliche Meldungen auf die Flüchtlinge: "No smoking inside. No WIFI." Das erste lässt sich einfach lösen, denn es gibt schon zwei eingezäunte Raucherbereiche vor der Halle. Das zweite ist schwieriger. Polizisten sind bemüht, den Flüchtlingen zu erklären, dass sie nicht einfach rausspazieren dürfen, um eine deutsche SIM-Karte zu kaufen.
Auch Ali würde gerne nach Syrien telefonieren – seine Familie ist in Daraa geblieben. Der Weg nach Deutschland sei erschöpfend und gefährlich gewesen, doch ein Zurück gebe es nicht. "Mein Heimatland gibt es nicht mehr, Syrien ist in sechs Einzelteile zerfallen", sagt der Mathematik-Lehrer. Jetzt ist er endlich dort, wo er sein wollte. "Deutschland ist ein gutes Land. Und die Regierung hier kümmert sich um uns." Von der hiesigen Debatte über die Flüchtlingskrise hat er nicht viel mitbekommen.
Eher ruhig ist es an diesem Abend in der Dreiländerhalle. Erst die Hälfte der Riesenfläche ist mit Schlafmatten belegt. Die Flüchtlinge legen sich zum Ausruhen hin oder holen sich Kakao und Gebäck an der Essensausgabe. An den Tagen, an denen besonders viele aus Österreich kommen, werden Menschen auch hier untergebracht, wo normalerweise Konzerte und Veranstaltungen stattfinden. Flüchtlinge drücken sich eng an die Wände, wo Steckdosen zu finden sind. Über ihren Köpfen kündigen bunte Plakate einen Auftritt des Komikers Bülent Ceylan an. Die Veranstalter versprechen, alles werde wie geplant stattfinden, auch das berühmte Kneipenfestival.
"Mama Merkel"
Wenn das größte Notquartier dann nicht mehr zur Verfügung steht, werden die kleineren wieder bis zum letzten Bett voll. In den Paul-Hallen – eigentlich alte LKW-Lager, die jetzt der Unterbringung von Flüchtlingen dienen – beobachtet Michael jeden Vormittag das gleiche Szenario: Die meisten Menschen sind schon auf den Rest von Deutschland verteilt, die Reinigungskräfte bereiten die Halle vor für die nächste Runde.
Wie Hunderte in Passau hilft Michael freiwillig, verteilt Windeln oder schenkt Tee aus. "Sie lieben Schwarztee in Massen. Und auch Zucker – das ist das wichtigste Nahrungsmittel", sag der 39-Jährige und lacht. In der Facebook-Gruppe "Passau verbindet" kann Michael eintragen, wann er eine oder mehrere zweistündige Schichten übernehmen kann. "Manche Helfer sind tagsüber an der Uni und kommen dann nachts hier her. Es ist schon eine große Belastung, aber keiner beschwert sich. Es macht Spaß, zu helfen und zu sehen, wie sich die Leute freuen, wenn sie eine alte Jacke geschenkt bekommen."
Ein Bild von der Lage wollte sich in den Paul-Hallen auch die Grünen-Spitzenpolitikerin Claudia Roth machen, die so mancher Flüchtling begeistert anguckt, weil er sie mit "Mama Merkel" verwechselt. Roth steigt in einen Bus, fragt die Flüchtlinge, wie es ihnen geht und den Fahrer, wo der Bus hinfährt. "Mannheim? That's a nice place! I hope you'll like it." Dann guckt sich die Vizepräsidentin des Bundestages an, was die Flüchtlingskinder in der Mal-Ecke machen – unzählige Zeichnungen der deutschen und anderer Flaggen sind zu sehen.
Schafft man das?
Von Journalisten um ein Statement gebeten, wechselt Roth blitzschnell in den Angriffsmodus. Am Pranger stehen viele – vom ungarischen bis zum britischen Premier, aber vor allem die CSU. "Wir sind doch hier nicht im politischen Sandkasten. Hier geht es um tausende Schicksale. Wer, wenn nicht wir, kann es schaffen?"
Es sind große Fragen, die auch Passau quälen. Müsste doch eine Obergrenze gezogen werden? Werden die Polizisten irgendwann ihre Überstunden abbauen können? Bekommt man genügend Finanzmittel aus München und Berlin? Und vor allem: Wann kehrt der schöne Alltag an die Donau zurück?
Wenn die Lehrerin Melanie von Wagen ihren Blick auf die Menschenmasse richtet, fühlt sie sich zerrissen. Einerseits: "Wenn hier in Deutschland Krieg wäre, würde ich auch meine Kinder nehmen und mich auf dem Weg machen in ein besseres, friedliches Leben." Anderseits sieht von Wagen ihre Stadt an ihre Grenzen kommen. Schafft Passau das? Ja, Passau packe das, sagt sie – und schiebt hinterher: hoffentlich.