Paris versinkt in Wut und Tränengas
8. Dezember 2018Ein Land im Ausnahmezustand. Leer gefegte Straßen, kein einziges Auto, keine Spaziergänger, die Geschäfte schwer verbarrikadiert. Die Stadt ist kaum wiederzuerkennen. Einzig unterwegs: die "Gelbwesten". Zu Tausenden strömen sie durch die Seitenstraßen, die sternförmig auf den "Arc de Triomphe" zulaufen. Treffpunkt auch diesen Samstag: die Champs-Élysées.
So wie Anne-Laure. Zusammen mit Bruder und Schwager steht die 35-Jährige aus Vernon bereits den dritten Samstag auf den Champs-Élysées. Auf ihrem Spruchband steht rot auf weiss: "Macron, Du driftest ab!". Sie ist wütend.
"Ich bin Krankenpflegerin. Ich verdiene im Monat 1200 Euro Brutto. Damit kann ich meine Rechnungen bezahlen, aber dann geht nichts mehr. Wir wollen nicht viel, nur anständig leben." Anne-Laure reibt sich ihre tränenden Augen. "Wir stehen hier mit Plakaten, wir sind friedlich und die Polizei wirft Tränengaspatronen. Sie wollen uns den Mund verbieten!"
Die "Gelbwesten"-Proteste richten sich gegen Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron und seine Reformpolitik. Angesichts der massiven Proteste hat die Regierung in Paris ihre für 2019 geplante Steuererhöhung auf Benzin und Diesel ausgesetzt. Doch auch gegen Änderungen in der Bildungspolitik gingen in den vergangenen Tagen Tausende Schüler und Studenten auf die Straße.
Arbeiten für "nix und wieder nix"
An diesem Samstag sollen sich nach jüngsten Regierungsangaben mehr als 70.000 Menschen an den Protesten beteiligt haben. Antoine und seine Kumpels sind extra aus der Normandie angereist. Politisch seien sie nie gewesen, so Antoine. Aber nun müsse sich etwas ändern, das Leben sei trotz Vollbeschäftigung einfach zu teuer, erklärt der 23-jährige Bauarbeiter. "Ich arbeite 45 Stunden die Woche, mein Lohn reicht gerade für Miete und Essen. Trotz Arbeit könne er ohne die finanzielle Unterstützung seiner Eltern nicht leben, so Antoine. Das kann nicht sein!”
Auf Präsident Macron angesprochen, kommt eine Antwort überraschend oft: "Wir haben nichts speziell gegen Macron." Er sei einfach nur wie alle anderen Politiker, die den Kontakt zu ihren Bürgern verloren hätten, klagen die Demonstranten.
"Die soziale Gerechtigkeit wird mit Füßen getreten, das hat in Frankreich schon lange vor Macron begonnen, Hollande war auch nicht besser", schimpft Jean-Paul. "Wer von der politischen Elite weiß schon, wie es ist, jeden Tag um fünf Uhr morgens aufzustehen, um für nix und wieder nix in die Fabrik zu gehen?", erbost sich der 52-jährige KFZ-Mechaniker.
Massive Polizeipräsenz
Rund 8000 Sicherheitskräfte sind in Paris im Einsatz, im ganzen Land waren es fast 90.000. Allein in der französischen Hauptstadt sind nach Angaben der französischen Regierung etwa 600 Menschen festgenommen worden - landesweit gab es 1385 Festnahmen. Bei den Verdächtigen seien Masken, Steinschleudern, Hämmer und Pflastersteine gefunden worden. Die meiste Gewalt gab es in der Hauptstadt Paris. Dort wurden nach Angaben von Krankenhäusern 126 Verletzte behandelt. In ganz Frankreich gingen rund 125.000 Menschen auf die Straße.
Die massive Polizeipräsenz in Paris trägt aus Sicht der Demonstranten nicht dazu bei, die Lage vor Ort zu entschärfen. "Sie haben uns unsere Masken abgenommen und versprochen, sie tun uns nichts! Und seht her, was sie jetzt machen", schreit eine Demonstrantin. Tränen laufen ihr übers Gesicht.
Im Minutentakt schleudern Einsatzkräfte Tränengaspatronen in die Menge der Demonstranten. Bei jedem Wurf flüchten diese rechts und links auf die Bürgersteige der Champs-Élysées, Hände auf Mund und Augen gedrückt. Sonderkommandos marschieren wiederholt durch die Menge. Mit erhobenen Schlagstöcken machen sie vor nichts halt. Wer nicht schnell genug zur Seite springt, fällt zu Boden. Die Menschen helfen sich gegenseitig. Überall Fremde, die sich gegenseitig Serum in die brennenden Augen träufeln. Schnell. Bevor die nächste Patrone fliegt.
Nur einige Hundert Meter entfernt liegt der Élysée-Palast. Abgeschirmt durch hohe Konstruktionen aus Stahl und Plexiglas ist er unerreichbar für die Protestler. Alle Zufahrtsstraßen Richtung Rue Faubourg - St. Honoré sind durch die Polizei weiträumig abgeriegelt. Für Bewohner der Sperrzone heißt das: egal, ob sie raus oder rein wollen, ohne langwierige Gesichts- und Personenkontrollen geht heute gar nichts. Nur wer sich mit seinem Personalausweis ausweisen kann, wird durch eigens eingebaute Gittertüren zu seiner Wohnung vorgelassen.
"Wir sind noch lange nicht fertig"
Auch Touristenattraktionen wie der Eiffelturm, das Louvre-Museum und zahlreiche Metro-Stationen in der Pariser Innenstadt sind abgesperrt. Etliche Geschäfte verbarrikadierten ihre Schaufenster aus Furcht vor Randalierern. Gegen Mittag brennen die ersten Mülltonnen auf den Champs-Élysées. Zu massiven Verkehrsbehinderungen kam es, als Hunderte Demonstranten die Pariser Ringautobahn "Périphérique" blockierten. Am frühen Nachmittag flogen Pflastersteine, auch gegen das Gebäude der Industrie- und Handelskammer.
Die Fassaden der Geschäfte auf der Pariser Prachtstraße sind kaum noch sichtbar. Vor den Schaufenstern von Louis Vuitton hängen dicke Rauch- und Tränengasschwaden. Auf der Terrasse des Luxus-Restaurants Fouquet's, an anderen Tagen beliebt bei den Granden aus Politik und Wirtschaft, sind ausnahmsweise keine Austernplatten zu sehen. Stattdessen belagern "Gelbwesten" Stühle und Tische.
"Wenn Sie uns nichts anderes geben als Tränengas, dann ist das unsere Antwort", brüllt ein Demonstrant. Anne-Laure hält noch immer ihre Banner hoch. Sie lasse sich nicht einschüchtern, kommende Woche werde sie wieder hier sein, so die Krankenpflegerin. "Bis es gerechter zugeht. Wir sind noch lange nicht fertig."