Paralympische Expansion
7. September 2016Das riesige Stahlgerüst an der Copacabana wird von Tag zu Tag kleiner. Die Beachvolleyball-Arena, vor kurzem noch das wild schlagende Herz der Olympischen Spiele, ist kaum wieder zu erkennen. Weiter südlich an der Promenade hat der olympische "Megastore" weiter geöffnet, doch die Verkäufer sind fast unter sich. Draußen herrscht wieder Alltag: Jugendliche stecken am Strand ihre Fußballfelder ab oder hängen ihre Volleyballnetze auf. Jogger laufen vorbei. An den Infoständen heißt es, man habe zwei ruhige Wochen verlebt, mit relativ wenig Touristen. Olympia, dieser Rausch war schön, aber nun müsse es auch mal gut sein.
Gegenüber dem Luxushotel Copacabana Palace mustern Passanten eine Skulptur mit drei sichelförmigen Linien in Rot, Blau und Grün. Kurz darauf schauen sie sich fragend an. Eine Helferin erläutert, dass die Skulptur "Agitos" darstelle, den lateinischen Begriff für Bewegung. Es ist das Logo der Paralympics. Para, das griechische Wort für "neben", soll die Nähe zu Olympia verdeutlichen, erzählt die Helferin. Dass die Paralympier bis 1987 die fünf olympischen Ringe als ihr Logo führten, erzählt die Frau nicht. Erst auf Druck des IOC mussten sich die Behindertensportler ein neues Symbol suchen.
Von Barrierefreiheit keine Spur
Die Weltspiele des Behindertensports erschließen eine neue Zielgruppe. Fünfmal fanden sie bereits in Nordamerika statt, nun steht in Rio die lateinamerikanische Premiere an. An den 15. Sommer-Paralympics nehmen rund 4300 Athleten aus mehr als 170 Ländern teil. Wegen der angespannten Haushaltslage der Stadt sind die Paralympics von massiven Kürzungen betroffen. Einige der olympischen Sportstätten werden nicht mehr genutzt, der Transfer der Delegationen und Journalisten ist eingeschränkt.
Die Organisatoren interpretieren die Spiele dennoch als Symbol für den Fortschritt, vor allem für die fast dreißig Millionen Menschen, die in Brasilien mit einer Behinderung leben. Die Lage ist zwiespältig: Die moderne Verfassung Brasiliens von 1988 benennt zwei Amtssprachen: Portugiesisch und die Gebärdensprache Libras. Brasilien gehörte zu den ersten Unterzeichnern der UN-Behindertenrechtskonvention, die 2008 in Kraft trat. Viele Details wurden 2015 in einem Gesetz verabschiedet: Barrierefreiheit, Behindertenquoten auf dem Arbeitsmarkt oder das Zutrittsrecht mit Blindenführhunden. Doch diese Papiere haben mit der Wirklichkeit wenig zu tun, sagt Wenzel Michalski, Direktor von Human Rights Watch in Deutschland: "In den Favelas können Millionen Menschen von Barrierefreiheit nur träumen."
Für behinderte Menschen in den Armenvierteln sind Bildung, Medizin oder gute Rollstühle unerreichbar. In einer Studie gaben achtzig Prozent der Menschen mit Behinderung in Brasilien an, dass sie sich nicht respektiert fühlen. Und diese Zahl dürfte weiter wachsen, denn die Ungleichheit im Land wird größer. "Wir möchten mit den Paralympics eine Zeitenwende einleiten", sagt Andrew Parsons. Der ehemalige Journalist ist seit 2009 Präsident des Paralympischen Komitees in Brasilien. "Für uns ist das eine Revolution."
Parsons verweist auf die technische Entwicklung im Stadtbild von Rio, von der künftig auch Touristen mit einer Behinderung oder ältere Menschen mit Gehhilfen profitieren sollen. Viele Hotels und Touristenattraktionen sind seit langem barrierefrei, doch inzwischen sind auch zwei Drittel der Busse in Rio für Rollstuhlfahrer zugänglich.
Beste finanzielle Voraussetzungen
Im Behindertensport zählen die Brasilianer zu den Aufsteigern. Ihr Paralympisches Komitee wurde 1998 von der Regierung anerkannt und erhielt 2001 erstmals Mittel aus der Lotterie. Seit 2004 überträgt das brasilianische Fernsehen die Paralympics. Und so kam der sportliche Erfolg, wie der Medaillenspiegel verdeutlicht: Platz 14 bei den Spielen 2004 in Athen, Rang neun 2008 in Peking, Platz sieben in London. Die Brasilianer verfügen über den einträglichsten Sponsorenvertrag aller Paralympischen Komitees weltweit. Die staatliche Bank Caixa überweist umgerechnet mehr als acht Millionen Euro im Jahr.
In Anbetracht der hohen Summe hinterfragen viele Brasilianer die hohen Ausgaben für die Paralympier, wenn zeitgleich behinderte Menschen in den Favelas nicht ihre Wohnungen verlassen können. Andrew Parsons verweist auf das neue Behindertensportzentrum in Sao Paulo, errichtet für fünfzehn Sportarten, aber auch für die Entwicklung des Rehabilitationssports von Unfallopfern. "Wir möchten dieses Zentrum auch für Sportler aus anderen Ländern Lateinamerikas öffnen", sagt Parsons. Sein Komitee veranstaltet einen der größten Schülerwettbewerbe weltweit. In den vergangenen Monaten wurden dutzende Sportlehrer im Umgang mit Behinderungen geschult. Es sind Maßnahmen, die es ohne die Paralympics wohl nicht gegeben hätte.
Bei den Olympischen Spielen haben sich die Brasilianer vor allem für ihr Fußballteam interessiert. Bei den Paralympics gibt es den Blindenfußball. Der Ball enthält Rasseln, so dass dieser beim Rollen Geräusche macht. Bis auf den Torwart sind alle Spieler blind oder sehgeschädigt. Seit 2004 ist diese Sportart paralympisch - Gold gewann bislang immer Brasilien.