Orban in Russland: Was will der ungarische Premier?
5. Juli 2024Noch vor kurzem schien es, als seien die Zeiten, in denen Viktor Orban in der Europa-Politik für einen hohen Empörungspegel sorgte, vorbei. In der Europäischen Union und der NATO nahm Ungarns Premier immer mehr die Rolle eines anstrengenden Störenfrieds ein, den man duldet, weil er Klubmitglied ist, aber bei Absprachen notfalls umgeht.
Doch nun sorgt Orban international für so große Aufregung wie seit langem nicht mehr: Während Ungarn erst seit wenigen Tagen die EU-Ratspräsidentschaft innehat, flog der Budapester Premier am Freitag nach Moskau, um sich dort mit dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin zu treffen. Nach Orbans eigener Aussage diente das Treffen dazu, Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine anzustreben. Putin, gegen den ein internationaler Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen vorliegt, hatte erst am Tag zuvor angekündigt, dass er derzeit keinerlei Friedensverhandlungen zustimmen werde.
Zum letztem Mal war ein EU-Regierungschef in Moskau Anfang April 2022 - damals sprach der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer mit Putin, um einen Kriegsstopp auszuloten. Allerdings ist Österreich - anders als Ungarn - nicht NATO-Mitglied und hatte zu der Zeit auch nicht die EU-Ratspräsidentschaft inne. Zudem sind Nehammer und seine konservative ÖVP keine erklärten Russland-Freunde, sondern unterstützen die Ukraine.
Kein Mandat
Anders sind die Umstände von Orbans jetzigem Besuch in Moskau: Nicht nur hat Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft inne. Sein Premier pflegt auch als einziger in der EU weiterhin freundschaftliche Beziehungen zu Russland. Orban vermeidet alle Gesten und Erklärungen, die Putin in irgendeiner Weise brüskieren könnten. Zudem findet sein jetziger Moskau-Besuch wenige Tage vor dem NATO-Gipfel in Washington statt.
Inwieweit Orban die Ukraine, die EU und die NATO vorher über den Besuch informiert hat, ist unklar; zumindest die Ukraine und die EU-Führung wussten offenbar bis zuletzt nicht, dass der ungarische Premier nach Moskau fliegen würde. Sowohl die NATO- als auch die EU-Führungsspitzen betonten, dass er kein Mandat erhalten habe, mit Putin Gespräche zu führen oder in irgendeiner Weise zu verhandeln.
Seit 2010 fast jedes Jahr Treffen
"Es fällt mir schwer, eine rationale Erklärung für diesen Besuch zu finden", sagt der Politologe Andras Racz, der führende unabhängige ungarische Experte für ungarisch-russische Beziehungen, derzeit Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Orban habe derzeit keinerlei Anlass und Grund, wegen bilateraler ungarisch-russischer Angelegenheiten nach Moskau zu fahren, so Racz zur DW. "Orban sagt, er wolle mit Putin über einen Friedensplan sprechen, aber dieser Plan ist Unsinn, da Putin gerade erklärt hat, keinem Waffenstillstand zuzustimmen", sagt der Politologe. "Stattdessen bietet Orban dem russischen Staatspräsidenten erneut die Möglichkeit, sich international gut darzustellen."
Tatsächlich pflegt kein EU-Regierungschef so enge Beziehungen mit Putin wie Orban. Nachdem er 2010 Premier wurde, traf er Putin fast jedes Jahr in Moskau oder Budapest, und das auch noch nach dem Beginn der russischen Vollinvasion in der Ukraine. Zuletzt kamen die beiden Politiker im Oktober 2023 in Peking zusammen, anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der chinesischen Infrastrukturinitiative "Neue Seidenstraße".
Orban: Westen für Krieg verantwortlich
Orban lässt auch sonst keine Gelegenheit aus, dem russischen Staatspräsidenten eine freundschaftliche Haltung zu signalisieren. Wenn Ungarns Premier zu seinen eigenen Landsleuten und in Ungarisch spricht, macht er den Westen für Russlands Krieg gegen die Ukraine verantwortlich und nennt die EU und die USA "Kriegstreiber" und "Kriegsgewinnler". Meistens bezeichnet er Russlands Krieg gegen die Ukraine als einen "slawischen Bruderkrieg", nur ausnahmsweise spricht er davon, dass Russlands Angriff auf die Ukraine völkerrechtswidrig sei. Orban plädiert auch für ein Ende der antirussischen EU-Sanktionen und fordert, die Waffenhilfe für die Ukraine zu stoppen. Denn dann sei der Krieg schnell zu Ende, da die Ukraine ihn allein nicht gewinnen könne.
Was Orban mit dieser Außenpolitik bezweckt, wird auch Experten wie Andras Racz immer unverständlicher. "Für den jetzigen Besuch in Moskau gibt es zwei mögliche Erklärungen", rätselt der Politologe. "Entweder ist Orban verrückt geworden, oder er ist überzeugt, dass die Ukraine den Krieg verlieren wird, und möchte sich rechtzeitig auf die Gewinnerseite stellen."
Unklar, was Ungarn bemängelt
Obwohl Orban seine Außenpolitik mit ungarischen Interessen begründet, hat sich die Putin-Affinität des Budapester Premiers bisher materiell nicht wirklich ausgezahlt. Ungarn bezieht weiterhin russisches Gas, allerdings nicht zu einem besonders günstigen Preis. Die Kooperation mit Russland bei der Atomkraft-Technologie ist für das Land ebenfalls sehr kostspielig. Und russische Investitionen gibt es in Ungarn kaum.
Auch für Orbans langjährige antiukrainische Politik lassen sich nur schwer nachvollziehbare Erklärungen finden - außer die, sich das Wohlwollen Moskaus zu sichern. Nominell sieht die ungarische Regierung die Rechte der ungarischen Minderheit in der Ukraine verletzt. Ende 2023 machte Kiew geplante Einschränkungen beim muttersprachlichen Unterricht für Minderheiten rückgängig. Dennoch beschwert sich Budapest weiter - was Ungarn konkret bemängelt, ist aber unklar.
Dank an Putin
Am Dienstag dieser Woche (2.7.2024) war Orban erstmals seit Februar 2022 in die ukrainische Hauptstadt gereist und hatte vorab die Differenzen in der Minderheitenpolitik zwischen Ungarn und der Ukraine betont, ohne allerdings Details zu nennen. In Kiew rief Orban die Ukraine dann zu Friedensverhandlungen auf. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schwieg höflich.
Mit dieser Außenpolitik hat Orban Ungarn in den vergangenen Jahren immer mehr isoliert. Selbst einstige Verbündete wie die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni oder die rechtsextreme französische Politikerin Marine Le Pen wollen mit Orban möglichst nichts mehr zu tun haben. Orban scheint das kaum anzufechten. In Moskau lobte er sich dafür, dass "Ungarn das einzige Land in Europa" sei, dass "noch mit beiden Kriegsparteien sprechen" könne. Und: Er bedankte sich bei Putin, dass dieser ihn "auch unter so schweren Umständen" empfangen habe.