Europakritiker Ungarn führt die EU an: Womit ist zu rechnen?
30. Juni 2024Der rechtsnationale ungarische Premier Viktor Orban ist der erste Ratsvorsitzende der Europäischen Union, der die Institutionen der EU öffentlich angreift und herabwürdigt. In seinen Reden und Interviews in Ungarn hat er mehrfach behauptet, die EU bedrohe die Souveränität Ungarns, zerstöre Mittelstand und Landwirtschaft. Deshalb müsse er nach Brüssel ziehen, um "die dortigen Machtstrukturen zu erschüttern." Ungarn hat in den letzten Jahren mehrfach sein Veto gegen Entscheidungen der übrigen EU-Staaten eingelegt. Trotz der EU-skeptischen Grundstimmung der ungarischen Regierung versichert Europaminister Janos Boka, sein Land werde ein "ehrlicher Makler" sein. Ungarn wird bis Jahresende die Sitzungen der Ministerräte leiten, die Tagesordnungen festlegen sowie Verhandlungen mit dem EU-Parlament als zweiter gesetzgebender Kammer führen.
Ungarn oft auf der Anklagebank
Noch nie in der Geschichte der EU hatte ein Ratspräsident so große Interessenkonflikte wie Ungarn, denn gegen die Regierung in Budapest läuft ein Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge, wegen einer grundsätzlichen Gefährdung der rechtsstaatlichen Ordnung in Ungarn. Gegen das Land laufen zahlreiche Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission wegen Verstößen gegen rechtsstaatliche Normen. Der Europäische Gerichtshof hat Ungarn gerade erste eine empfindliche Geldstrafe aufgebrummt, weil die Regierung europäisches Asyl- und Migrationsrecht nicht korrekt umsetzt. Viktor Orban nannte das Urteil "empörend" und kündigte an, es nicht akzeptieren zu wollen. Staats- und Regierungschefs, die anderer Meinung seien, müssten "weggeschickt werden." Der Angeklagte wechselt für sechs Monate auf den Stuhl des Vorsitzenden und soll nun neutral vermitteln. Viele Beobachter in Brüssel bezweifeln, ob das möglich ist.
Ungarn will sein Geld
Besonders heikel ist das Tauziehen zwischen Premier Orban und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei den Finanzhilfen für Ungarn. Obwohl Budapest die EU und ihre rechtsstaatlichen Normen in ihrer heutigen Form scharf ablehnt, fordert die Regierung die Auszahlung von Zuschüssen aus dem Corona-Aufbaufonds und Kohäsionsfonds. Die EU hatte insgesamt 30 Milliarden Euro an Finanzspritzen eingefroren, weil die konkrete Gefahr von Korruption besteht und Gerichte in Ungarn nicht mehr als unabhängig angesehen werden. Ein Teil der Gelder wurde wieder freigegeben, um sich die notwendige Zustimmung Viktor Orbans zu weiteren politischen und militärischen Hilfen für die kriegsgebeutelte Ukraine zu erkaufen. Es ist das erste Mal, dass ein EU-Ratsvorsitzender mit Strafen wegen des sogenannten "Rechtsstaatsmechanismus" belegt ist.
Ungarn will der Ukraine nicht helfen
Der ungarische Europaminister Janos Boka macht der Ukraine keine Hoffnung auf schnelle Fortschritte bei den gerade erst am 25. Juni gestarteten Beitrittsverhandlungen. Es werde unter ungarischer Präsidentschaft keines der 35 anstehenden Verhandlungskapitel eröffnet werden. Die Finanzhilfen für die Ukraine blockiert Budapest ohnehin, wo es kann. Zurzeit weigert sich Ungarn Militärhilfen in Höhe von 6,6 Milliarden Euro aus einem EU-Fonds freizugeben. Ob der künftige Ratspräsident dieses Veto aufrechterhält, ließ die Regierung bislang offen. Auch das wäre ein ziemlich einmaliger Vorgang für den "ehrlichen Makler", den die Ratspräsidentschaft auf der Suche nach Kompromissen eigentlich spielen soll. Der ungarische Premier, der trotz der EU-Sanktionen gute wirtschaftliche Beziehungen zu russischen Unternehmen pflegt, hat sich im EU-Wahlkampf als denjenigen angepriesen, der für Frieden eintrete. "Wir lassen uns in keinen Krieg hineinziehen, lassen uns keine illegalen Migranten aufzwingen und schon gar nicht unsere Kinder umerziehen", sagte Viktor Orban beim Nationalfeiertag im März.
Ungarn will Fortschritte mit dem Westbalkan
Die beitrittswilligen Staaten des westlichen Balkans können dagegen auf mehr Schwung bei ihren Verhandlungen mit der EU hoffen. Der Druck, der in einigen Teilen der EU für einen Beitritt der Ukraine gemacht werde, solle für den Westbalkan umgelenkt werden, kündigte Europaminister Janos Boka an. "Die Präsidentschaft hat sich zum Ziel gesetzt, dass ein Teil dieses Enthusiasmus auf die westlichen Balkanländer überschwappt, so dass sie alle der Mitgliedschaft einen Schritt näher-kommen könnten'", sagte Janos Boka in Brüssel. Es sei davon auszugehen, dass mit Serbien eine Reihe neuer Verhandlungskapitel eröffnet werden könnten. Ungarn und Serbien teilen die Vorbehalte gegen die europäische Ukraine-Politik und sind eher für russische Forderungen empfänglich. Serbien hat sich nach Beurteilung der EU-Kommission durch ein zunehmend autoritäres Staatswesen eher von einem Beitritt entfernt als angenähert. Mit Montenegro sollen nach Plänen der ungarischen Vorsitzenden möglichst viele Kapitel der Beitrittsverhandlungen abgeschlossen werden. Auch mit Nordmazedonien und Albanien sollen Fortschritte erzielt werden. Mit diesen beiden Ländern könnte es eine weitere förmliche Regierungskonferenz geben, um die Verhandlungen voranzutreiben. Für die Ukraine schloss der Europaminister dies für die nächsten sechs Monate aus.
Ungarns Macht nicht überschätzen
Den Einfluss, den eine EU-Ratspräsidentschaft auf die Geschäfte der Union hat, sollte man dennoch nicht überschätzen, meint Thu Nguyen von der Denkfabrik Jacques-Delors-Center in einer Analyse für das Magazin "Internationale Politik". Das Programm der Präsidentschaften liege langfristig fest. Ungarn könne höchstens ein paar Akzente setzen. Unmittelbar nach der Wahl des Europäischen Parlaments passiere in der Gesetzgebung traditionell sowieso recht wenig. Dieser Ratsvorsitz "wird damit in einen Zeitraum fallen, in dem die EU-Institutionen mit der Verteilung von Posten und vor allem mit der Ernennung der neuen Kommission beschäftigt sein werden. Infolgedessen wird in dieser Zeit nur wenig gesetzgeberische Arbeit geleistet werden, in denen ein Ratsvorsitz besonders wichtig ist", meint die EU-Expertin. Die Rolle als Moderator in den trilateralen Verhandlungen zwischen Kommission, Rat und Parlament über Gesetzesvorhaben werde kaum anfallen.
Ungarn lehnt Kommissionspräsidentin ab
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist nicht nur deshalb für Viktor Orban ein rotes Tuch, sondern Orban bezeichnet ihre Leistung insgesamt als "schwach". "Die vergangenen fünf Jahre waren wahrscheinlich die schlimmsten fünf Jahre in der Geschichte der EU", wetterte der zukünftige Ratsvorsitzende, der mit der EU-Kommission zusammenarbeiten soll. Die deutsche Kommissionspräsidentin empfindet ebenfalls herzliche Abneigung für den ungarischen Regierungschef und seine rechtsnationalen Parteifreunde in der EU. "Sie wollen unsere Werte mit Füßen treten und sie wollen unser Europa zerstören", warnte sie im Europawahlkampf.
Das Europäische Parlament hatte schon im vergangenen Jahr die Eignung der ungarischen Regierung für eine EU-Ratspräsidentschaft in Frage gestellt. Aus dem Parlament kommt immer wieder harsche Kritik an Ungarn, vor allem wegen seiner rechtsstaatlichen Unzulänglichkeiten. Gespannt darf man sein, welchen verbalen Schlagabtausch sich Viktor Orban als EU-Ratspräsident im Plenarsaal mit den EU-Abgeordneten liefern wird.
"Wir werden auch die Ungarn überstehen", meint ein EU-Diplomat, der nicht genannt werden will. Im ersten Halbjahr 2025 werde man dann mit Polen als Ratspräsident und einer neuen EU-Kommission in die sachliche Arbeit starten. Zum Glück, so der EU-Diplomat, sei in Warschau ja wieder eine EU-freundliche Regierung am Ruder und nicht mehr die Viktor Orban seelenverwandte rechtsnationale PiS.