EU-Erweiterung
29. April 2009Ein gutes Dutzend junger Europäer sitzt in einem fensterlosen Seminarraum auf dem Messegelände im Norden Stockholms im Kreis und diskutiert Vor- und Nachteile von Datei-Tauschbörsen im Internet. Zum 60. Mal tagt das Europäische Jugendparlament, ein Projekt, das junge Menschen aus 32 Ländern Europas zum lebhaften Debattieren und Visionen entwickeln anregen will.
In dieser Diskussionsgruppe hängen an den Wänden Plakate, die mit handschriftlichen Notizen übersät sind, daneben kleine Zettel mit Aufforderungen wie "die Kultur des anderen respektieren“. Der 17-jährige Andris Šuvajevs aus Lettland mit seinem grünen Pullover und der Schiebermütze leitet die Diskussionsrunde. Er ist seit 2007 bei den Treffen des Europäischen Jugendparlaments dabei. "Mittlerweile mache ich vor allem wegen meiner Freunde mit. Die sind auf ganz Europa verteilt, und ohne sie kann ich nicht leben", sagt er.
"Ich war nicht sicher, wo ich hingehöre"
Europa und die Europäische Union, das sind für Andris nicht nur theoretische Begriffe. Die EU bedeute für ihn vor allem, ungehindert reisen zu können und zu studieren, wo er wolle, sagt der lettische Schüler aus Riga mit Blick auf die Zukunft. Dabei waren seine Eltern dem europäischen Staatenbündnis gegenüber zunächst sehr kritisch eingestellt. Sie waren dagegen, sich nach dem Ende der Okkupation durch Russland sofort wieder einem anderen Machtblock unterzuordnen.
Andris selbst erinnert sich vor allem an den Sprachenstreit, der in Lettland kurz nach dem Beitritt zur EU entflammte: "Ich war zwölf Jahre alt, als im September das neue Schuljahr begann und die russischen Schüler auf die Barrikaden gingen. Die Regierung hatte Lettisch in der Schule zur Hauptsprache gemacht. Da war ich mir nicht mehr sicher, wo ich hingehöre."
Auch im Nachbarland Estland ist die Integration der russisch stämmigen Bevölkerung immer wieder ein Thema. In einem Staatenverbund wie der EU zu sein, gebe sicherheitspolitisch Rückhalt, sagt Helga Kalm, die in Tartu studiert - keine 60 Kilometer Luftlinie von der Grenze zu Russland entfernt. Dass ihr Land vor fünf Jahren EU-Mitglied geworden sei, gefalle ihr, sagt Helga und rückt die kantige schwarze Brille zurecht: "Der Beitritt war eine Erleichterung. Estland hatte hart dafür gekämpft, die Kriterien für die Mitgliedschaft zu erfüllen. Durch die Aufnahme wurden wir international stärker wahrgenommen."“ Das sei wichtig gewesen, weil das Land zwischen Russland und der EU lag, zwischen Ost und West. "Ein Teil der Europäischen Union zu sein, hat uns ökonomisch stärker gemacht", sagt die Studentin.
Zu Hause in Europa
Jahrelang galten die baltischen Staaten als Tigerstaaten in der EU, mit traumhaften Zuwachsraten in der Wirtschaft. Doch mit dem ökonomischen Erfolg stieg zuletzt auch die Inflation in Schwindel erregende Höhen. Die internationale Wirtschaftskrise wirkte sich im Herbst 2008 besonders auf Lettland aus, ein Staatsbankrott wurde mit Milliardenzahlungen der EU und des Internationalen Währungsfonds (IWF) abgewendet.
Doch die Preise seien bereits kurz nach dem Beitritt gestiegen, erinnert sich Andris Šuvajevs, der nach dem Abitur im nächsten Jahr Wirtschaftswissenschaften studieren will. Am liebsten an der "Stockholmer School of Economics" in Riga oder irgendwo anders in Europa, wo er sich seit dem EU-Beitritt noch mehr zu Hause fühlt als vorher: "Ich habe fast jede Kultur, die wir in der EU haben, erfahren. Es ist ein tolles Gefühl, wenn ich meine E-Mails abrufe und sehe, dass ich eine Nachricht von einem Freund in Spanien bekommen habe, der mir erzählt, wie es ihm geht. Das stärkt mein Gefühl, ein EU-Bürger zu sein. Für meine persönliche Entwicklung ist das sehr wichtig"“, sagt der Lette Andris und rauscht zurück ins Seminar, um mit seinen Kollegen aus Griechenland, Deutschland und Schweden weiter zu diskutieren. Schließlich wollen sie dem Plenum am Ende des Treffens eine gemeinsame Resolution zum Thema Datenklau im Internet vorlegen.
Autorin: Agnes Bührig
Redaktion: Sandra Voglreiter