Estlands Bevölkerung besitzt zwei Identitäten
29. Juni 2008In Tallinn treffen Welten aufeinander: Auf der einen Straßenseite steht das rosafarbene Parlamentsgebäude. Gleich gegenüber befindet sich die russisch-orthodoxe Alexander-Newsky Kathedrale. Nah beieinander aber doch auf verschiedenen Seiten stehen Russen und Esten im heutigen Estland. Während die Esten möglichst alle Symbole und Spuren der sowjetischen Herrschaft los werden möchten, hängt die russischsprachige Bevölkerung an alten Traditionen. "Vergangenheit ist Vergangenheit", sagt Polina Novak. "Man kann sie nicht loswerden. Wenn man ihre Symbole irgendwie wegschafft dann geht die Vergangenheit doch nicht abhanden, die wird ja sowieso bleiben."
Polina Novak ist 21 Jahre alt und ihre Muttersprache ist Russisch. Als sie geboren wurde, lag ihre Heimatstadt Narva noch in der Sowjetunion - heute liegt sie in Estland. 1940 hatte die Sowjetunion die kleinen baltischen Staaten für sich beansprucht und dafür gesorgt, dass sich in Estland möglichst viele Russen ansiedeln. Viele der russischen Einwanderer von damals sind nach der Revolution und Befreiung Estlands geblieben und machen auch heutzutage noch 26% der Bevölkerung aus. Wie Polina haben viele Russen die estnische Staatsbürgerschaft angenommen, ihre Identität aber bleibt mit der russischen Kultur verbunden.
"Die Russen müssen sich anpassen"
"Wenn mich jemand fragt, dann antworte ich meistens: Ich bin Russin. Viele können das nicht verstehen, da ich einen estnischen Pass habe." Für Polina aber ist es eindeutig: Ihre Muttersprache ist Russisch, ihre Eltern sind Russen und sie ist in einer russischen Stadt aufgewachsen. "Die meisten meiner Freunde sind auch Russen", sagt sie. "Ich glaube meine Seele ist auch eher Russisch als Estnisch." Polina Novak spricht ebenfalls perfekt Estnisch und studiert inzwischen Germanistik in Tartu, einer Stadt im Landesinneren. Viele andere Russen hingegen, vor allem ältere Generationen isolieren sich vom Rest der Gesellschaft.
Die Estin Katrin Polviander kann das nicht verstehen. "Es ärgert mich, dass die Russen von uns Esten verlangen, dass wir ihre Traditionen akzeptieren, aber sie akzeptieren es überhaupt nicht, dass sie in Estland wohnen und vielleicht ein bisschen Estnisch lernen könnten. Die Regierung entwirft seit Jahren Integrationsprogramme. Im vergangenen Schuljahr wurde an den russischen Schulen im Land das Fach "Estnische Literatur" eingeführt. Durch die Beschäftigung mit der estnischen Kultur sollen die jungen Russen sich besser integrieren können und sich schneller an die rasanten Entwicklungen des Landes anpassen.
Weniger Platz für russische Kultur
Im Vordergrund stehen Veränderungen die der Wirtschaftswachstum mit sich bringt, der im letzten Jahr knapp über 11% lag. Einkaufszentren, wie das Kaubamaja in Tartu, eröffnen ihre Tore. Elke Hanusch unterrichtet Deutsch an der Universität Tartu und lebt seit 6 Jahren in Estland. Sie beobachtet die Veränderungen, die sicherlich auch durch den EU-Beitritt vor vier Jahren unterstützt werden. "Estland ist teurer geworden, es ist aber auch schöner geworden", sagt sie. "Die Universität hatte im Herbst ihr 375-Jähriges Jubiläum und da ist natürlich sehr, sehr viel gemacht worden. Alles was man hier sieht ist binnen kürzester Zeit im letzten Herbst Zeit entstanden.
Der schnelle Wandel hindert die Esten nicht daran, sich ihre eigene Identität zu bewahren. Die Tradition der Sängerfeste mit estnischen Liedern wird zum Beispiel bereits seit 1869 gepflegt. Viele der heute bekannten Texte stammen außerdem aus der Zeit der "Singenden Revolution", die schließlich zur Unabhängigkeit Estlands führte. Die junge Estin Keiu Juurma, die in Tartu Germanistik studiert, erzählt: "Vor zwei Jahren hatte ich ein richtig patriotisches Erlebnis. Da hat man ein Lied von Tonis Mäki gesungen, der auch in der Singenden Revolution mitgemacht hat; viele Lieder stammen von ihm. Dann standen die Leute, hielten sich an den Händen und sangen das Vaterlandslied." Auch diesen Sommer treffen sich wieder mehrere hundert Einwohner von Tartu zu einem Nachtsängerfest im Park. Es herrscht ausgelassene Stimmung. In Momenten wie diesen spürt selbst der Außenstehende den Enthusiasmus und die Leidenschaft der Esten. Gepaart mit dem Vorwärtsdrang, der das Land gepackt hat, wird für die russische Kultur immer weniger Platz bleiben.