Ohne Frauen: Gelehrten-Treffen der Taliban
6. Juli 2022Erstmals seit ihrer Machtübernahme haben die Taliban eine große Versammlung von islamischen Gelehrten und einigen Stammesältesten aus verschiedenen Landesteilen abgehalten. Die dreitägige Veranstaltung in Kabul, die am vergangenen Samstag zu Ende ging, basierte auf dem traditionellen Vorbild der sogenannten "großen Versammlung" oder Loja Dschirga, wo angesehene Vertreter verschiedener ethnischer und gesellschaftlicher Gruppen über Fragen von nationaler Tragweite beraten. Die Taliban nannten ihre Versammlung jedoch nicht Loja Dschirga, sondern Versammlung der Ulema, das heißt der Religions- und Rechtsgelehrten Afghanistans. Die Institution der Loja Dschirga spielte unter anderem bei der Installierung der prowestlichen Regierung unter Hamid Karsai nach dem Sturz der Taliban 2001/2002 eine wichtige Rolle.
Das jetzige von den Taliban organisierte Treffen ging ohne Fortschritt bei Frauenrechten und der politischen Teilhabe von Minderheiten zu Ende. Unbeantwortet blieb die Frage, wann Mädchen ab der sechsten Klasse wieder zur Schule gehen können. Fragen der DW zu den Themen Frauenrechte, Minderheiten oder mögliche Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen ließen die Taliban unbeantwortet.
"Ausland soll sich nicht einmischen"
"Die Taliban wollten der Welt zeigen, dass sie die große traditionelle Ratsversammlung mit Anwesenheit einflussreicher Personen und Stammesvertreter abhalten können", sagt der ehemalige afghanischer Diplomat Asis Meradsch im Gespräch mit der DW. Mehr als 3000 Männer waren von der militant-islamistischen Gruppe nach Kabul eingeladen worden. Sie sollten vor allem ihre Ergebenheit gegenüber dem Taliban-Führer Haibatullah Achundsada demonstrieren, der zum ersten Mal seit der Machtübernahme der Taliban im vergangenen August öffentlich in Kabul auftrat. In der Versammlungshalle wurde er mit Jubel und Gesängen empfangen, wie die Nachrichtenagentur AFP berichtete. "Lang lebe das Islamische Emirat Afghanistan" hätten die Anwesenden gerufen. Sie forderten zudem die internationale Gemeinschaft auf, die Taliban-Regierung anzuerkennen und eingefrorene Konten mit Staatsgeldern freizugeben.
Wie das Land geführt wird, soll nach Ansicht der Taliban ihr oberster Führer entscheiden. Achundsada betonte auf der Versammlung, er sei "kein symbolischer politischer Führer, der sich auf Wahlen stützt". Achundsada tritt nur selten öffentlich auf, trägt den Titel "Anführer der Gläubigen" und gehört zu den Gründern der Taliban-Bewegung. Er verkündete, das Gesetz Gottes in Afghanistan durchsetzen zu wollen, selbst wenn die Welt "mit einer Atombombe" gegen die Taliban vorginge. "Wir hören einzig auf Allah, den Allmächtigen." Er betete auch für die mehr als 1000 Opfer des Erdbebens Ende Juni.
Ausdrücklich verbat sich der Taliban-Chef Einmischungen aus dem Ausland: "Sie sagen: 'Warum macht Ihr nicht dies, warum macht Ihr nicht jenes'", klagte Achundsada in einer einstündigen Rede. "Warum mischt sich die Welt in unsere Arbeit ein?" Die Taliban-Vertreter im Kontakt mit dem Ausland müssten "Härten erdulden", weil "die Welt es nicht leicht akzeptieren wird, dass ihr das islamische System umsetzt". Damit erteilte er indirekt auch wiederholten Forderung der internationalen Gemeinschaft eine Absage, die Rechte der Frauen zu respektieren.
"Moderne Erziehung" nur Lippenbekenntnis
Seit ihre Machtübernahme schränken die Taliban die Rechte afghanischer Frauen und Mädchen kontinuierlich ein. Insofern war es keine Überraschung, dass unter den 3000 Delegierten bei der Versammlung keine Frau war. Frauen in Afghanistan hatten lange für politische Mitsprache in der Loja Dschirga gekämpft, die zur Klärung der nationalen und ethnischen Probleme dienen soll. 2019 hatte der von den Taliban vertriebene Präsident Ashraf Ghani eine Frauenquote von 30 Prozent bei der Versammlung durchgeführt. Im Jahr 2020 waren rund 700 Frauen bei der Loja Dschirga anwesend. Heute erlebten Frauen und Mädchen, "dass all die Fortschritte der letzten Jahre rückgängig gemacht werden", erklärte die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet am Freitag im UN-Menschenrechtsrat in Genf. Die Zukunft der Frauen in Afghanistan werde noch düsterer, falls sich nicht schnell etwas ändere.
Wie diese Veränderung erreicht werden könnte, ist unklar. Die US-Sonderbeauftragte für afghanische Frauen und Mädchen, Rina Amiri, gestand zuletzt via Twitter ein, dass der Druck der Weltgemeinschaft bislang keine Fortschritte für afghanische Frauen, Mädchen und andere gefährdete Bevölkerungsgruppen bewirkt habe. Der frühere afghanische Präsident Hamid Karsai sieht in der Aufnahme der Formulierung "religiöse und moderne Erziehung" in die Abschlussresolution der Versammlung einen Hinweis darauf, dass eine Rückkehr der Mädchen in die weiterführenden Schulen bevorstehen könnte. Er räumte allerdings im Interview mit der FAZ ein, dass es bislang keine Fortschritte bei der von den meisten Afghanen gewünschten Teilhabe aller gesellschaftlicher Gruppen gibt.
Mitarbeit: Ahmad Hakimi