Darf ich mein Kind vegan ernähren?
7. März 2021"Sagt mir bloß nicht, dass ihr jetzt auch diesem Trend folgt!" Das war die Reaktion der Kinderärztin, als Marco und seine Frau ihr erklärten, dass sie ihre Tochter vegan ernähren. Proteine, Vitamin B12, Jod, Zink, Selen - woher soll das alles kommen?
"Du musst deine Fakten parat haben", sagt Marco, und wissen, welche Nahrungsmittel welche Mikronährstoffe enthalten. Die Eltern brachten ihre Argumente vor, die Ärztin ließ sich besänftigen.
In zahlreichen Studien mit Erwachsenen konnte bereits nachgewiesen werden, dass eine pflanzenbasierte Ernährung nicht automatisch zu Nährstoffmängeln führt, sondern - im Gegenteil - enorme gesundheitliche Vorteile mit sich bringen kann.
Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Beschwerden und verschiedene Krebsarten werden von Forschern als ernährungsbedingt bezeichnet und auf zu viel Zucker, gesättigte Fettsäuren und Fleisch zurückgeführt.
Laut des letzten Ernährungsberichts der Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) aus dem Jahr 2020 nimmt der Verbrauch an Gemüse in Deutschland zwar zu, der Fleischkonsum bleibt aber auf einem hohen Niveau von jährlich fast 60 Kilogramm pro Kopf. Aus ökologischer und gesundheitlicher Perspektive ist das katastrophal.
Jedes siebte Kind hierzulande ist übergewichtig, heißt es im aktuellen Papier der DGE. Weltweit litten 2016 340 Millionen Kinder und Jugendliche an Übergewicht oder Fettleibigkeit, meldet die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dazu kommen 38 Millionen zu dicke Kleinkinder unter fünf Jahren. Rund um den Globus hat sich die Zahl der Übergewichtigen seit 1975 fast verdreifacht, allen voran in den Industrienationen.
Längst hat deshalb auch die eher konservative DGE erkannt: "Eine pflanzenbetonte Ernährung ist nicht nur gesundheitsfördernd, sondern auch klimafreundlich."
Vegan ist nicht gleich gesund
Nun bringt eine vegane Ernährung nicht automatisch einen gesünderen Menschen hervor, weshalb eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema unabdingbar ist. Das gilt allerdings für jede Ernährungsweise: Wer seinen Nährstoffbedarf nicht ausreichend deckt, wird früher oder später krank.
Der Pharmakologe und Professor am Institut für Ernährungsmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Lübeck, Martin Smollich, betitelt deshalb einen Artikel zur veganen Ernährung in seinem Blog mit "Vegan oder gesund? Das ist die falsche Frage!".
Potenzielle Gesundheitsgefahren für vegan ernährte Kinder, deren Eltern nicht sorgfältig auf die Lebensmittelauswahl achten, seien unstrittig. Andererseits gebe es viel mehr Kinder, deren Gesundheit durch sehr fett- und zuckerhaltige Lebensmittel gefährdet werde: "Die Zahl jener Kinder, die durch hyperkalorische und andere Fehlernährungen bereits im Grundschulalter schwere Gesundheitsschäden aufweisen, dürfte millionenfach höher sein", schreibt Smollich.
Kritische Nährstoffe bei Kindern
Einer, der sich mit veganer Ernährung besonders gut auskennt, ist Markus Keller. Keller ist Ernährungswissenschaftler und einer der Gründer des Forschungsinstituts für pflanzenbasierte Ernährung (IFPE).
In Kooperation mit der DGE hat Keller zwei Studien durchgeführt, die Klarheit darüber schaffen sollten, ob vegetarisch oder vegan ernährte Kinder und Jugendliche tatsächlich unter dem von Kritikern reflexhaft heraufbeschworenen Nährstoffmangel leiden.
"Bevor wir unsere VeChi Diet und VeChi Youth Studien durchgeführt haben, gab es genau zwei Forschungsarbeiten mit explizit vegan lebenden Kindern", sagt Keller. Vegetarisch ernährte Kinder sind zwar etwas besser untersucht, aber insgesamt ist die Studienlage auch hier sehr dürftig.
"Keine signifikanten Unterschiede"
Keller untersuchte Gruppen von jeweils rund 400 Probanden im Kleinkindalter von ein bis drei Jahren (VeChi Diet) und Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und 18 Jahren (VeChi Youth), von denen sich jeweils etwa ein Drittel vegan, vegetarisch oder mit einer Fleisch enthaltenden sogenannten Mischkost ernährten.
"In beiden Studien waren keine signifikanten Unterschiede bei der altersgemäßen Entwicklung, also der durchschnittlichen Körpergröße und des Gewichts, zu erkennen." Die Untersuchungen seien allerdings nur ein Querschnitt, räumt Keller ein. Es gebe bisher keine Langzeitstudie, aber er und sein Team stecken bereits in der Vorbereitung für Folgestudien.
Seine Untersuchungen sind außerdem nicht repräsentativ für alle vegan lebenden Kinder, weil die Probanden beziehungsweise deren Eltern sich freiwillig für die Teilnahme an der Studie gemeldet haben und niemand weiß, wie viele Kinder insgesamt in Deutschland vegan ernährt werden. Wichtige Hinweise liefern die gesammelten Daten dennoch. Zum Vitamin B12 zum Beispiel.
Dieses Vitamin spielt bei verschiedenen Stoffwechselprozessen eine Rolle und ist beispielsweise an der Blutbildung beteiligt und für die Funktion des Nervensystems essentiell. Das Problem: Der Mikronährstoff muss über die Nahrung aufgenommen werden. Das ist für Veganer besonders problematisch, weil Vitamin B12 vor allem in tierischen Produkten vorkommt.
Für Veganer, die wie Marco und seine Frau gut informiert sind, ist das allerdings Basiswissen. Die Eltern träufeln ihrer kleinen Tochter die B12-Portion in flüssiger Form deshalb regelmäßig übers Müsli. Das lohnt sich durchaus.
"Vor allem bei den veganen Kindern und Jugendlichen war der Vitamin-B12-Status besonders gut", sagt Markus Keller. Das konnten die Wissenschaftler anhand von Blutproben feststellen. Für Keller ein klarer Hinweis darauf, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Vitamin-B12-Supplementierung vorhanden ist.
"Wir haben in beiden Studien kritische Nährstoffe gefunden, aber keine vegan-spezifischen kritischen Nährstoffe", sagt der Ernährungswissenschaftler. Calcium, Vitamin B2, Jod und Vitamin D seien in allen drei Gruppen unter den Soll-Werten gewesen.
"Aber bei Calcium und Vitamin B2 haben die veganen Kinder tatsächlich noch etwas schlechter abgeschnitten als die Vegetarier und Mischköstler."
In anderen Bereichen wiederum hätten die veganen Kinder die Nase vorn gehabt, sagt Keller: Bei Vitamin E, Vitamin C, Folsäure, Magnesium, Ballaststoffen und sogar bei Eisen. Auf dem Speiseplan der kleinen Veganer standen außerdem weniger Zucker, weniger Fastfood und dafür mehr Gemüse, Obst, Vollkornprodukte, Nüsse und Hülsenfrüchte.
Die Mischkostkinder wiederum hätten tendenziell viel mehr Fleisch und Wurst gegessen, als offiziell für diese Altersgruppe empfohlen wird.
"Insgesamt haben die veganen Kinder im Durchschnitt das beste Lebensmittelmuster gehabt", fasst Keller zusammen. Sojawürstchen und Lupinenschnitzel hätten dabei nur eine Nebenrolle gespielt. "Die meisten haben einfach vollwertige, pflanzliche Lebensmittel verzehrt," also zum Beispiel Broccoli, Mohrrüben, Blumenkohl und Kartoffeln. "So, wie es ja auch generell empfohlen wird."
Eltern veganer Kinder ernähren sich meist selbst pflanzenbasiert und wissen ziemlich gut, worauf sie achten müssen. Sie gehen bewusster mit ihrer Ernährung um und eignen sich häufiger aktiv Wissen um Nährstoffe an, schreibt das Bundesinstitut für Risikoforschung (BfR) in seinem Wissenschaftsmagazin BfR 2 Go.
Wenn vegan, dann richtig
Das Fazit des Ernährungswissenschaftlers Keller lautet deshalb: Wenn vegan, dann muss auf jeden Fall Vitamin B12 supplementiert und auf die kritischen Nährstoffe geachtet werden. Ernährungsgesellschaften anderer Länder wie den USA , Großbritannien, Italien und Portugal stützen diese These und sind damit weit weniger zurückhaltend als die deutsche DGE.
Doch auch die ist mittlerweile von ihrer ausdrücklichen Warnung vor veganer Ernährung bei Schwangeren, stillenden Müttern, Kindern und Jugendlichen abgerückt.
Markus Keller möchte seine Forschungen ausweiten - aktuell läuft eine neue Studie zur Untersuchung veganer und nicht-veganer, schwangerer Frauen. Der Ernährungswissenschaftler hat außerdem mehrere Bücher verfasst, die vegan lebenden Schwangeren und Eltern als Ratgeber dienen können.
Marco sagt, die größte Herausforderung für ihn sei, sicherzustellen, dass er an alles denkt und sein Wissen über Nährstoffe immer wieder auffrischt. Eine Blutuntersuchung, um Gewissheit über den Nährstoffstatus seiner Tochter zu erlangen, soll bald folgen.
Markus Keller empfiehlt ebenfalls, etwa einmal jährlich die Blutwerte der Kinder kontrollieren zu lassen. Mit Blick auf die Ergebnisse seiner Studien sieht er allerdings keinen Anlass, die Kontrolle auf die veganen Kinder zu beschränken. "Das wäre für alle Kinder empfehlenswert."