OHCHR-Chef Türk: "Menschenrechte sind zentral für Syrien"
18. Dezember 2024Kann auf den Trümmern des Assad-Regimes ein neues Syrien entstehen, dessen Bewohner große individuelle Freiheiten und Menschenrechte genießen? Das ist zumindest die Hoffnung der internationalen Gemeinschaft. Neben dem UN-Sondergesandten für Syrien sind bereits Delegationen der Europäischen Union, Deutschlands und Frankreichs nach Damaskus gereist, um das Gespräch mit den neuen Machthabern von der islamistischen Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) zu suchen.
In der kommenden Woche sollen auch Gesandte des UN-Hochkommissars für Menschenrechte im Land eintreffen - nach 14 Jahren, in denen die Experten dort nicht erwünscht waren. Sie sollen Beweisstücke für Gräueltaten des Assad-Regimes sicherstellen - aber auch in die Zukunft gerichtet die Menschenrechtslage stabilisieren. Die DW konnte am Rande einer Konferenz in Berlin mit dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte, dem Österreicher Volker Türk, sprechen.
Größtes Fragezeichen HTS
"Es ist klar, dass Menschenrechte zentral sind für die Zukunft der Syrer", sagte Türk zur DW. "Und ich hoffe einfach, dass wir im Lichte dieser außerordentlichen Entwicklungen die Syrer bei ihrem Kampf um Gerechtigkeit, zusätzliche Freiheiten und ein Leben, wie wir es genießen, unterstützen können."
Das größte Fragezeichen hierbei ist die Einstellung der HTS: Einst im Umfeld von Al-Kaida gegründet, wurden der Miliz in der Vergangenheit Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Bis heute steht sie auf Terrorlisten der EU, der USA und des Vereinigten Königreichs. Die Ende November begonnene Überraschungs-Offensive war jedoch betont moderat angelegt: Das Führungspersonal nutzt Klarnamen anstelle früherer Kampfnamen. Auch sind keine ethnischen Säuberungen in den eroberten Gebieten bekannt geworden.
Ein neues Syrien - auch für Minderheiten?
Die HTS verspricht, Minderheiten zu schützen - aufgrund ihrer Vergangenheit bleibt jedoch auch Misstrauen. "Es ist wichtig, dass derartige Erklärungen abgegeben wurden und es ist wichtig, dass es eine Verbindlichkeit gibt", sagte Türk zur DW. "Wir werden sehen müssen, wie das in der Praxis aussieht und werden sicherstellen müssen, dass diese Beteuerungen in die Realität umgesetzt werden."
Das gilt für Syriens vielfältige ethnische Minderheiten - zum Beispiel Kurden, Jesiden, Drusen, Alawiten und Assyrer -, aber auch für sexuelle Minderheiten. So sind homosexuelle Handlungen verboten und können mit Gefängnis bestraft werden. Vor dem Umbruch bezeichnete die syrische LGBTQ-Menschenrechtsorganisation GEM das Land als "eines der gefährlichsten für LGBTQ-Personen".
Auch für ihre Situation hofft Türk auf Fortschritte durch den Machtwechsel: "Ich habe tatsächlich Hoffnung, dass das Syrien, das gerade entsteht, anders sein wird. Ein Syrien, das auf den Menschenrechten von jedem einzelnen beruht. Vielleicht klinge ich gerade zu optimistisch, aber wir müssen diesen Anspruch hochhalten - denn das ist, was die Menschen wirklich wollen."
Der Übergang ist und bleibt riskant
Noch ist trotz aller Hoffnungen und Erwartungen keineswegs vorgezeichnet, dass Syrien infolge des Umsturzes wirklich zu einem sicheren und freieren Land wird: Die Türkei sowie Israel haben das Machtvakuum bereits für zahlreiche Luftangriffe genutzt, um die eigenen sicherheitspolitischen Ziele abzusichern. Auch die USA haben nach eigenen Angaben Luftangriffe geflogen - gegen Stützpunkte der Terrormiliz IS. Denn auch Washington könnte daran gelegen sein, nach dem Sturz des Assad-Regimes seine Machtbasis in Syrien wieder auszuweiten.
Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Textes wurde eine falsche Abkürzung für den UN-Hochkommissar für Menschenrechte genutzt. Wir bitten um Verzeihung.