Offensive Gedenkkultur
22. Januar 2014Andrea Sailer betritt eine Holzbaracke, der Boden knarzt, im Halbkreis vor ihr haben sich junge Fußballfans aus dem Rheinland postiert. Die Berufspädagogin leitet das Fanprojekt München, eine Einrichtung für Jugendarbeit. Sie deutet durch das vergitterte Fenster hinaus auf den Appellplatz des früheren Konzentrationslagers Dachau. "Da draußen wurde auch Fußball gespielt", sagt Sailer. "Häftlinge mussten gegen Wächter der SS antreten." Die Gäste blicken ungläubig, einer der Jugendlichen fragt: "Was ist passiert, wenn ein SS-Mann den Ball ins Gesicht bekommen hat?" Eine Diskussion entsteht. Fragen, Zweifel, Betroffenheit.
Im Konzentrationslager Dachau in der Nähe von München waren 200.000 Menschen inhaftiert, mehr als 41.000 starben, viele wurden in andere Lager transportiert. In der 1965 errichteten Gedenkstätte diskutieren Aktivisten der Versöhnungskirche immer wieder über eine moderne Geschichtsvermittlung. Seit fünf Jahren organisieren sie mit dem Münchner Fanprojekt Gruppenführungen. "Mit dem Bezug zu ihrer Leidenschaft Fußball erreichen wir junge Männer auf einer emotionalen Ebene, die sie selten zulassen", sagt Eberhard Schulz, langjähriger Diakon der Versöhnungskirche.
Anstoß für Erinnerungstag kommt aus Italien
Die Idee ist inzwischen Bestandteil der Fanarbeit bei vielen der fünfzig Fanprojekte. Sozialarbeiter reisen mit ihren Gruppen nach Auschwitz, Sachsenhausen und sogar nach Israel. Andrea Sailer achtet darauf, die historischen Kenntnisse in die Lebenswelt der Jugendlichen zu übertragen: "Wir dürfen nicht mit dem moralischen Zeigefinger kommen, wir müssen die Ausgrenzung von damals erklären, damit sie sich heute nicht wiederholt, zum Beispiel beim Mobbing in der Schule."
Aktionen wie jene in Dachau werden rund um den Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz, in vielen Stadien und Vereinsheimen durchgeführt. Der Anstoß zum "Erinnerungstag im Fußball" kommt aus Italien: Riccardo Pacifici, Präsident der Jüdischen Gemeinde in Rom, hatte sich für eine offensive Erinnerungskultur in italienischen Stadien eingesetzt. Aktivisten der Versöhnungskirche Dachau übertrugen diesen Anspruch 2005 auf die deutschen Arenen. Seit dem traf man sich bereits zum zehnten Mal, um den Erinnerungstag zu begehen. Mitte Januar kamen rund 270 Fans, Wissenschaftler und Funktionäre zu Vorträgen, Workshops und Konzerten zusammen.
Für viele Jugendliche ist Gedenken eine Pflichtaufgabe
Einer der Ehrengäste auf der Tagung war Ernst Grube, von den Nazis als "Halbjude" bezeichnet. Grube hatte einige Jahre im Kinderheim verbracht, bevor er im Februar 1945 ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurde. Der heute 81-Jährige schildert seine Erinnerungen bis zu einhundert Mal im Jahr, in Schulen, Kirchen oder Vereinsheimen. "Nach dem Krieg habe ich den Trainingsplatz von 1860 München entdeckt. Ich wurde sofort angenommen und hatte endlich das Gefühl: ich gehöre dazu." Diesen Neuanfang nach langer Demütigung erwähnt er gegenüber Jugendlichen, auf Einladung der Fangruppe "Löwenfans gegen Rechts" auch vor Nachwuchsfußballern von 1860 München. "Leider ist das Interesse oft bescheiden", sagt Grube. "Für viele ist das nur eine Pflichtaufgabe."
2010 hatte die Wochenzeitung "Die Zeit" bei TNS-Infratest eine Befragung von Jugendlichen ab 14 Jahren in Auftrag gegeben. Es kam heraus, dass sich mehr als zwei Drittel für den Nationalsozialismus interessieren. Allerdings fühlen sich vierzig Prozent genötigt, Betroffenheit zu zeigen, sobald sie auf den Holocaust angesprochen werden. Schon länger suchen Museen und Gedenkstätten nach neuen Wegen der Geschichtsvermittlung, da die letzten Zeitzeugen während der NS-Zeit Kinder oder Jugendliche waren. Denn auch deren Wahrnehmung verändert sich, mit jeder Publikumsresonanz und mit jedem Buch, das sie über den Nationalsozialismus lesen.
Match der Versöhnung in Warschau
Kann Fußball zur intensiven Auseinandersetzung beitragen? "Der Spruch, man muss die Leute dort abholen, wo sie stehen, ist eine pädagogische Binsenweisheit - und oft bleiben sie dann genau dort stehen", sagt der Historiker Wolfgang Benz, langjähriger Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung. "Ob der Fußball-Bezug über kurze Betroffenheit der Hörer hinaus geht und zum Verständnis der nationalsozialistischen Strukturen beiträgt? Da bin ich skeptisch."
Die Initiatoren des Erinnerungstages wollen zumindest zum Nachdenken anregen. So verweist der Freiburger Historiker Diethelm Blecking auf den Aufstand in Warschau 1944, den größten einzelnen bewaffneten Widerstand während des Krieges, der sich am 1. August zum siebzigsten Mal jähren wird. Blecking und einige Wissenschaftler in Polen möchten ein "Match der Versöhnung" im neuen Stadion von Warschau auf den Weg bringen, zwischen Jugendteams aus Polen und Deutschland. "Viele polnische Hooligans und Fans gehören der rechtsextremen Szene an", sagt Blecking. "Wir wollen ein Zeichen setzen, das sie nicht übersehen können."