Offener Brief gegen Europas Flüchtlingspolitik
3. April 2019262 zivilgesellschaftliche Organisationen haben von Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik gefordert. "Wir sind erschüttert angesichts der gegenwärtigen europäischen Politik, die immer stärker auf Abschottung und Abschreckung setzt - und dabei tausendfaches Sterben billigend in Kauf nimmt", heißt es in einem offenen Brief an die deutsche Regierungschefin. Konkret werden drei Forderungen gestellt: ein Notfallplan für Bootsflüchtlinge, die Ermöglichung "sicherer Häfen" sowie ein Stopp von Rückführungen nach Libyen.
"Unterlassene Hilfeleistung der europäischen Staaten"
Die Unterzeichner des Briefes kritisieren in diesem Zusammenhang heftig die Kriminalisierung ziviler Helfer, "die der unterlassenen Hilfeleistung der europäischen Staaten nicht tatenlos zusehen wollen". Diese Politik bedrohe nicht nur das Leben von Menschen, sondern "setzt auch unsere eigene Humanität und Würde aufs Spiel". "Die Pflicht zur Seenotrettung ist Völkerrecht und das Recht auf Leben nicht verhandelbar", heißt es weiter.
Zu den Organisationen, die sich den Forderungen angeschlossen haben, gehören neben Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Pro Asyl und Ärzte ohne Grenzen auch kirchliche Wohlfahrtsverbände wie Diakonie, Brot für die Welt und Caritas, Gewerkschaften sowie auch der Fußballverein FC St. Pauli. Sie fordern eine menschenwürdige Aufnahme für Flüchtlinge und Zugang zu einem fairen Asylverfahren sowie die Möglichkeit für Kommunen in Deutschland, freiwillig Menschen aufnehmen zu können. Diese Forderungen seien vor der Europawahl im Mai "wichtiger denn je", heißt es in dem Brief an die Kanzlerin, die darin für ihr Handeln zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 gelobt wird.
Mehr als 5400 Flüchtlinge seit 2017 ums Leben gekommen
Im Mittelmeer ertranken nach UN-Angaben im vergangenen Jahr mehr als 2260 Menschen bei dem Versuch, mit Booten das europäische Festland zu erreichen. Ein Jahr zuvor waren demnach 3139 Bootsflüchtlinge ums Leben gekommen. Die EU-Kommission hat die Rettung von Flüchtlingen auf See durch die EU-Mittelmeer-Mission "Sophia" vorerst eingestellt, auch wenn der Marine-Einsatz formell bestehen bleibt.
Hintergrund ist ein Streit mit Italien über die Aufnahme der geretteten Bootsflüchtlinge. Seit dem Antritt der populistischen Regierung in Rom hat sich die Arbeit der privaten Seenotretter im Mittelmeer grundlegend geändert. Während Hilfsorganisationen vorher tausende Flüchtlinge vor dem Ertrinken bewahren konnten, werden ihre Schiffe nun beschlagnahmt oder dürfen Häfen in Italien und Malta nicht mehr anlaufen oder verlassen.
Aus für Seenotrettung "moralischer Offenbarungseid"
"Das Aussetzen der Operation 'Sophia' und der Abzug der Marine vor der libyschen Küste ist in der dramatisch zugespitzten Situation im Mittelmeer im wörtlichen Sinne unterlassene Hilfeleistung, erklärte der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbandes, Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes, der den Brief ebenfalls unterzeichnet hat. Die Seenotrettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer zu beenden, komme einem "moralischen Offenbarungseid" gleich, ergänzte Diakonie-Präsident Ulrich Lilie. Die EU habe sich verpflichtet, Schutzsuchenden Zugang zu einem fairen Asylverfahren zu gewähren. "Stattdessen setzt sie immer stärker auf Abschottung und Abschreckung."
Sea-Eye rettet 64 Flüchtlinge vor libyscher Küste
Die deutsche Hilfsorganisation Sea-Eye rettete unterdessen 64 Flüchtlinge von einem Schlauchboot vor der Küste Libyens. Unter den Migranten auf dem Sea-Eye-Schiff "Alan Kurdi" seien zwölf Frauen, ein Kind und ein Baby, teilte die in Regensburg ansässige Organisation mit. Italien und Malta seien um Angabe eines sicheren Hafens gebeten worden.
Italiens Innenminister Matteo Salvini schrieb daraufhin auf Twitter, Sea-Eye solle sich an Deutschland wenden. Die deutsche Organisation habe in libyschen Gewässern eingegriffen. "Sie bitten um einen sicheren Hafen. Gut, fahren sie nach Hamburg", so der Chef der rechten Lega. Laut Sea-Eye hatte die libysche Küstenwache weder Schiffe noch Suchflugzeuge zur Hilfe für das Migranten-Schlauchboot in Seenot geschickt. Seit Juni 2018 ist offiziell die Küstenwache Libyens für die Rettung in diesem Bereich des Mittelmeers zuständig. Nach Angaben von Hilfsorganisationen reagiert sie jedoch nur selten auf Notrufe.
sti/kle (afp, ap, epd, kna)