Wie der Brexit für Irland alles ändert
30. Dezember 2020Geografisch liegt Irland am nordwestlichen Rand der Europäischen Union, doch beim Brexit steht es ungewollt im Zentrum: Die Republik besitzt die einzige Landesgrenze zum Vereinigten Königreich, wenn man vom eher unbedeutenden Überseegebiet Gibraltar einmal absieht. Das Ende der Übergangsphase am 31. Dezember bringt für Handel und Grenzverkehr eine riesige Umstellung mit sich und womöglich auch ernste Probleme. Kein EU-Mitglied dürfte das so stark zu spüren bekommen wie Irland.
Doch die schlimmsten Befürchtungen für die irische Insel sind vom Tisch: Seit Weihnachten ist immerhin gewiss, dass Briten und EU-Bürgern das "No Deal"-Szenario erspart bleibt. In letzter Minute gelang eine Vereinbarung über die zukünftigen britisch-europäischen Beziehungen. Bereits Anfang Dezember hatten Brüssel und London sich auf ein Nordirland-Protokoll geeinigt.
In Nordirland ist der Brexit ein bisschen weicher
Das Protokoll verschiebt die Zollgrenze de facto in die Irische See, sodass Zollkontrollen nur im Handel zwischen Nordirland und den anderen Landesteilen des Vereinigten Königreiches notwendig werden. Auf diese Weise wird eine harte Grenze zur Republik Irland vermieden, sodass Personen und Waren weiter ohne Kontrollen passieren können. Das ist aus Dublins Sicht nicht zuletzt deshalb wichtig, weil viele in der Republik Irland produzierte Waren von Nordirland aus verschifft werden.
Für Nordirland bedeutet es vor allem, dass die schlimmsten Befürchtungen abgewendet scheinen: Die Chefin der Regionalregierung, die Unionistin Arlene Foster, und ihre Stellvertreterin, die Republikanerin Michelle O'Neill, hatten Anfang November in einem gemeinsamen Schreiben an die EU-Kommission ihre Sorge ausgedrückt, dass ein "No Deal"-Szenario eine "ernste Bedrohung für die Lebensmittelversorgung" darstellen könnte.
Wird die "Landbrücke" gekappt?
Dabei ist nicht das Problem, dass Kapazitäten für Container fehlten - wegen der Corona-bedingten Wirtschaftskrise werden derzeit vergleichsweise geringe Warenmengen verschifft. Hinzu kommt eine weitere Fährverbindung, die ab dem 2. Januar zwischen dem irischen Rosslare und dem französischen Dünkirchen (Dunkerque) nahe der belgischen Grenze verkehrt.
"Das eigentliche Problem ergibt sich für Händler, die mit zeitkritischen Gütern hantieren", sagt Tom Ferris vom irischen Institut für Internationale und Europäische Angelegenheiten (IIEA). Die mit etwa 20 Stunden Fahrzeit schnellste Verbindung zwischen Irland und dem Rest der EU führt quer durch Großbritanniens Süden, sodass nur zwei kurze Fährfahrten nötig sind. Diese "Landbrücke" wird laut einer Studie des Irischen Seefahrtentwicklungsamts IMDO jährlich von 150.000 Lastwagen genutzt.
Wie fragil die "Landbrücke" und auch die Versorgung der britischen Insel ist, zeigte sich in den Tagen vor Weihnachten, als wegen einer neuen Variante des Coronavirus der Fährverkehr zum Erliegen kam und Zehntausende Lastwagen am wichtigen Fährhafen Dover strandeten. Ein solches Chaos und Versorgungsengpässe waren eigentlich erst zwei Wochen später für den Fall eines "No Deal" befürchtet worden.
Die Hoffnung ist nun, dass es im neuen Jahr nicht noch einmal zu solchen Staus kommt. Damit LKW von und nach Irland weiterhin die "Landbrücke" nutzen können, greift auch künftig eine Vereinbarung, wonach Waren beim Transit nicht das vollständige Zoll-Prozedere durchlaufen müssen. "Das ist eine gute Sache - aber nur, wenn der Verkehr frei fließen kann und es nicht zu dem Chaos in Dover kommt, über das man zuletzt so viel lesen konnte", sagte Ferris im Gespräch mit der DW Anfang Dezember. "Ich kann mir kaum vorstellen, dass die britischen Behörden dann bevorzugt irische Lkws abfertigen." Logistiker könnten sich also gezwungen sehen, von der Landbrücke auf längere und teurere Direktverbindungen zwischen Irland und Kontinentaleuropa auszuweichen.
Der Preis des Brexit
Aus Sicht von Jessica Sargeant, Brexit-Expertin beim britischen Institute for Government, wird die Umstellung vor allem in den ersten sechs Monaten große Probleme bereiten - auf Modalitäten, die wenige Wochen vor Ende der Übergangsphase noch immer unklar sind. "Viele Unternehmen verwenden gerade viele Ressourcen darauf, wie sie mit Corona umgehen sollen. Immer noch sind einige von Kurzarbeit betroffen. Das heißt, sie haben im Bezug auf Personal und Logistik kaum Kapazitäten, sich darauf einzustellen."
Viel teurer wäre es für Irinnen und Iren geworden, wenn ab dem Jahreswechsel Zölle auf Importe angefallen wären. Bei einem "No Deal" wären beide Seiten auf die Richtlinien der Welthandelsorganisation WTO zurückgefallen. Das irische Sozialforschungsinstitut ESRI berechnete bereits 2018, dass ein harter Brexit die Lebenshaltungskosten um zwei bis drei Prozent erhöhen würde - aufs Jahr gerechnet wären das für einen durchschnittlichen Haushalt rund 900 bis 1350 Euro Mehrkosten. Diese zusätzlichen Belastungen für die von der Corona-Wirtschaftskrise geplagten Iren entfallen nun weitgehend.
Kaum Gefahr für den Frieden
Ökonomische Fragen, vor allem aber die Möglichkeit von Grenzkontrollen auf der Insel hatten die Sorge genährt, dass der Brexit den fragilen Frieden im Nordirlandkonflikt gefährden könnte. Dazu passte, dass Nordirland drei Jahre lang ohne Regionalregierung dastand, weil die großen Parteien der Unionisten und der Republikaner sich zerstritten hatten. Anfang des Jahres rauften sich beide Seiten jedoch wieder zusammen. Tom Ferris verweist auf das bereits erwähnte gemeinsame Schreiben der beiden Partei- und Regierungschefinnen an die EU-Kommission und sagt: "Es gibt Arbeitsbeziehungen - die könnten natürlich besser sein, aber sie arbeiten zusammen. Einen neuen Aufstand halte ich für unwahrscheinlich."
Hinzu kommt: Das Nordirland-Protokoll sichert freien Grenzverkehr und damit eine der Grundbedingungen des von der britischen Regierung unterzeichneten Karfreitagsabkommens von 1998, das als Grundstein für Frieden nach Jahrzehnten bewaffneter Konflikte gilt. Die somit notwendige Zollgrenze in der Irischen See ist vor allem ein Schlag für die nordirischen Unionisten, die den Landesteil so nah wie möglich an Großbritannien anbinden wollen. "Gewissermaßen ist der Schaden bereits angerichtet", sagt Jessica Sargeant. "Viele Unionisten fühlen sich von der britischen Regierung betrogen, seit sie dem Abkommen und den Handelsbarrieren zwischen Großbritannien und Nordirland zugestimmt hat."
Hoffnungen auf Joe Biden
Aus irischer Sicht tritt am 20. Januar eine Verbesserung ein, wenn Joe Biden neuer US-Präsident wird. Der Demokrat mit irischen Wurzeln hat sich bereits für einen Brexit-Deal mit einer offenen Grenze auf der Insel stark gemacht. "Es gibt etwas Positives, worauf man aufbauen kann", sagt IIEA-Analyst Tom Ferris. Zudem ist Irland wegen seiner für ausländische Konzerne vorteilhaften Steuerpolitik bereits seit Jahren der Europa-Standort von US-amerikanischen Firmen wie Google oder Amazon. Nun kommt ein weiterer Standortvorteil hinzu: "Irland ist seit dem Brexit der englischsprachige EU-Mitgliedsstaat", sagt Ferris. "Das kann weitere US-Investitionen in Irland begünstigen, als Sprungbrett in die EU."
Dies ist die aktualisierte Fassung einer früheren Version dieses Artikels.