Boris Johnson wagt den Rechtsbruch
9. September 2020Die entscheidende Formulierung im neuen britischen Binnenmarktgesetz lautet wohl: "Ungeachtet" einschlägiger und internationaler und nationaler Gesetze sollten britische Minister künftig von den Regelungen des sogenannten "Nordirland-Protokolls" abweichen können. Dieses Protokoll istTeil des Austrittsabkommens mit der EU und legt fest, dass Nordirland weiter wie ein Mitglied im EU-Binnenmarkt betrachtet wird. Die Folge sind gewisse Kontrollen im Warenverkehr zwischen dem britischen Festland, Nordirland und der Republik Irland.
Seit am Wochenende erste Informationen über den Gesetzestext an die Öffentlichkeit drangen, beherrscht die Affäre um den Vertragsbruch die Schlagzeilen. Jetzt ist klar, dass die britische Regierung den Verstoß gegen internationales Recht offen einkalkuliert. Wenn die britische Regierung künftig Kontrollen im Warenverkehr mit Nordirland einfach aussetzen könnte, würde ein Einfallstor für ungeregelte Importe über die Republik Irland in den EU-Binnenmarkt geschaffen. Die Nordirlandfrage gilt als eines der heikelsten Probleme im Brexit-Prozess.
Unbekümmertes Eingeständnis
Am Dienstag hatte Nordirland-Minister Brandon Lewis im Unterhaus scheinbar unbekümmert zugegeben, das neue Gesetz könne einen "begrenzten Bruch internationalen Rechts" mit sich bringen. Am Morgen danach musste dann der Gesundheitsminister die Absichten seiner Regierung in den Medien verteidigen: Er behauptete, das Gesetz diene dem Friedensprozess in Nordirland. Zuvor hieß die Sprachregelung: Es gehe um eine "juristische Bereinigung" oder eine "Notfallmaßnahme", falls ein Handelsabkommen mit der EU nicht zustande kommen sollte.
Inzwischen behaupten Regierungssprecher, das Austrittsabkommen sei "in Eile" unterzeichnet worden, was nach dreijährigen Verhandlungen nur begrenzt glaubhaft ist. Ironischerweise hatte am Dienstag ausgerechnet die frühere Premierministerin Theresa May im Parlament den Angriff gegen das sogenannte Binnenmarktgesetz angeführt und die Einhaltung internationalen Rechts angemahnt. In ihrer Amtszeit hatte May sich noch geweigert, die fragliche Sonderregelung für Nordirland zu unterzeichnen, weil sie einen Austritt der Nordiren vom Vereinigten Königreich fürchtete.
Ihr Nachfolger Boris Johnson hatte damit keine Probleme und stellte das Abkommen im vorigen Jahr als Sieg dar – nur scheint er jetzt die Rolle rückwärts zu machen. Schon seit der Sommerpause trommeln seine Brexit-Hardliner gegen das Austrittsabkommen und fordern, der Premier solle es einfach missachten. Das neue Binnenmarktgesetz wirkt wie ein Schritt in diese Richtung.
Johnson will Austrittsabkommen zerreißen
Im Unterhaus sagte Boris Johnson, die geplanten Kontrollen könnten zu einer Grenze im irischen Meer führen. Es gehe darum, den Friedensprozess in Irland zu wahren. Er selbst wolle nur "extreme oder irrationale" Auslegungen des Austrittsabkommens ausschließen.
Regierungssprecher erklären darüber hinaus, das Nordirland-Protokoll enthalte "Zweideutigkeiten und einen Mangel an Klarheit". Man sei davon ausgegangen, das spätere Vereinbarungen die Regelungen präzisieren würden. Es geht London anscheinend um eine nachträgliche Änderung eines internationalen Vertrages, der erst im Januar unterschrieben wurde.
Rücktritte und Reaktionen
Und wieder einmal rumort es in der britischen Politik. Am Dienstag war bereits Jonathan Jones, oberster Rechtsberater der Regierung, aus Protest zurückgetreten. Am Mittwoch legte ein konservativer Abgeordneter aus Wales seine Ämter nieder. Und die schneidendste Attacke kam von der schottischen Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon: "Was für eine Bande von inkompetenten und skrupellosen Spielern – sie zerstören den internationalen Ruf Großbritanniens".
In diese Kerbe schlägt auch der frühere konservative Premier John Major: "Seit Jahrhunderten wurde das feierliche Wort der Briten von Freunden wie Feinden anerkannt. Unser Wort behielt auch seine Kraft, als im letzten Jahrhundert unsere militärische Macht abnahm. Wenn wir aber den Ruf verlieren, unser Wort zu halten, werden wir das Allerkostbarste verlieren." Auch andere gemäßigte Tories, wie etwa der frühere Justizminister David Gauke, erinnern an die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit und warnen, gerade Konservative dürften sie nicht ignorieren.
EU lehnt Neuverhandlungen kategorisch ab
Die Europäer reagierten zunächst ziemlich fassungslos gegenüber der Kriegserklärung in Gesetzesform aus London. Der Vorsitzende des Gemeinsamen Brexit-Ausschusses, Maros Sefkovic, mahnte scharf: "Ich erwarte, dass Buchstabe und Geist des Austrittsabkommens voll eingehalten werden. Ich habe umgehend eine außerordentliche Sitzung des Gemeinsamen Ausschusses EU-UK einberufen, so dass unsere britischen Partner sich erklären und auf unsere starke Besorgnis antworten können".
Sefkovic erklärte weiter, er habe mit seinem britischen Gegenüber Michael Gove telefoniert, um die Bedenken Brüssels zu überbringen. "Das Austrittsabkommen ist nicht offen für eine Neuverhandlung ... in diesem Punkt müssen wir sehr, sehr deutlich sein". Im Gegenteil: Die EU hatte die Regelung der heiß umstrittenen Nordirlandfrage gerade deshalb zu einem Teil des Austrittsabkommens gemacht, um dem Protokoll die Wirksamkeit als internationaler Vertrag zu geben und es vor Umdeutungen zu schützen.
Auch Kommissionschefin Ursula von der Leyen schlägt inzwischen ziemlich scharfe Töne an: "Ich bin sehr besorgt über die Ankündigung der britischen Regierung, sie wolle das Austrittsabkommen brechen. Das wäre ein Bruch internationales Rechts und würde unser Vertrauen unterminieren. Pacta sunt servanda – die Verträge sind geschlossen und sind Basis für künftige, fruchtbare Beziehungen".
Offen bleibt dabei, ob die EU die Gespräche über das Handelsabkommen mit Großbritannien trotzdem weiterführt. In der Vergangenheit hieß der Grundsatz stets: Grundlage für ein Abkommen ist die Einhaltung des Nordirland-Protokolls. Die laufende Verhandlungsrunde wurde zunächst nicht abgebrochen. Ziehen die Europäer danach die Reißleine oder machen sie weiter, weil sie nicht die Schuld für den Abbruch der Gespräche auf sich ziehen wollen? Derzeit scheint man in Brüssel noch nicht genau zu wissen, ob und wie man mit den Briten weiter machen soll.