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"Diese Bilder brennen sich ein"

Marcel Fürstenau, z. Z. München20. Januar 2015

Am 175. Verhandlungstag im NSU-Prozess sagen die ersten Opfer des Nagelbomben-Attentats in der Kölner Keupstraße aus. Immer wieder stockt den Zuhörern der Atem. Auch außerhalb des Gerichtssaals geht es emotional zu.

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NEU Protest-Aktion vor dem Oberlandesgericht München NSU Prozess Kölner Keupstraße
Bild: picture-alliance/dpa/M. Müller

Sandro D. und Melih K. waren, wie so viele andere, zur falschen Zeit am falschen Ort. Als sie am 9. Juni 2004 in der überwiegend von Türkischstämmigen bewohnten Keupstraße in Köln einen Döner essen wollten, explodierte direkt neben ihnen eine Bombe. Die beiden Männer, damals Anfang 20, wurden von zwölf Zentimeter langen sogenannten Zimmermannsnägeln getroffen. Ihre Haare brannten, sie erlitten bleibende Hörschäden. Schwerste Verbrennungen haben sichtbare Spuren hinterlassen - im Gesicht, an Armen und Beinen, auf dem Rücken.

Die mit 702 Nägeln gefüllte Bombe war auf einem Fahrrad deponiert, dass vor einem Friseurladen stand. Den grausamen Anschlag hat mutmaßlich der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) verübt. Für alle ihm zur Last gelegten Taten, darunter zehn Morde, muss sich Beate Zschäpe seit Mai 2013 als Hauptangeklagte im NSU-Prozess vor dem Münchener Oberlandesgericht (OLG) verantworten. Außerdem sind vier Männer aus dem rechtsextremen Milieu Thüringens wegen Beihilfe angeklagt. Zschäpes Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos wurden nach einem gescheiterten Banküberfall in Eisenach am 4. November 2011 tot in einem ausgebrannten Wohnwagen aufgefunden. Nach Angaben der Ermittler sollen sie sich erschossen haben.

"Als wenn mir jemand die Beine weggeschossen hätte"

Als Erster schildert der inzwischen 34-jährige Sandro D., was vor bald elf Jahren in der belebten Keupstraße unmittelbar nach der Bombenexplosion mit ihm passierte. Es sei so gewesen, "als wenn mir jemand die Beine weggeschossen hätte". Überall Qualm, er habe seinen Freund Melih auf dem Boden liegen sehen. "Ich wusste nicht, ob er noch lebt." Das Oberteil sei ihm ausgezogen worden, "weil das am brennen war". Gehört habe er nichts mehr, dann sei ein Krankenwagen gekommen. "Danach war ich dann weg."

Der Friseursalon in der Keupstraße mit einem foto vom Tag des Attentats (Foto: DW/A. Grunau)
Abbild des Friseursalons in der Keupstraße, wo die Nagelbombe detonierteBild: DW/A. Grunau

Rund einen Monat verbrachte der Flughafen-Mechaniker im Krankenhaus, zunächst auf der Intensivstation. Mehrmals wurde er operiert. Unter anderem wurde ein Nagel entfernt, der den Oberschenkelknochen durchschlagen hatte. Der Körper ist von Narben übersät, in der Schulter klafft ein 20 Zentimeter großes Loch. "Körperlich wird mich das bis ins Alter verfolgen", sagt Sandro D. Sport könne er nicht mehr treiben, weil ihm dann die Knie wehtäten.

Die Opfer wurden der Tat bezichtigt

Auch beruflich hatte der Bombenanschlag gravierende Folgen für den jungen Mann. Die erste Zeit danach habe er wieder gearbeitet, "da ist es mir noch am besten gegangen". Doch das habe sich geändert. Er sitze oft herum und verfalle in Gedanken. "Es nagt an einem." Er stelle sich viele Dinge vor, leide oft an Schlafstörungen. "Allein der Gedanke, wie schnell es vorbei sein kann", sagt Sandro D.

Zu den körperlichen und seelischen Verletzungen kamen die Ermittlungen der Polizei. "Man hat uns verdächtigt, dass wir das Fahrrad vor dem Friseurladen abgestellt hätten", berichtet Sandro D. mit ruhiger Stimme. Anderthalb Wochen habe man ihm im Krankenhaus nicht gesagt, was mit Melih K. passiert sei. "Meine größte Angst war, dass ich meinen Freund verloren habe." Er hat überlebt - ebenfalls schwer verletzt.

Applaus von der Zuschauer-Tribüne

Er habe gerade in seinen Döner beißen wollen, "da gab es den Knall". Als Melih K. die Augen wieder öffnete, "war alles in Schutt und Asche". Er habe nicht mehr sprechen können, durch eine Stichflamme hätten seine Haare gebrannt. Wegen der großen Schmerzen wurde er für drei Tage in ein künstliches Koma versetzt. Ein Mediziner bestätigt anschließend die Aussage seines ehemaligen Patienten. Auf Fotos ist zu sehen, welche Spuren die Verbrennungen in seinem Gesicht und an seinem Körper hinterlassen haben. Die psychischen Verletzungen sieht man nicht. Jahrelang habe er die Öffentlichkeit gemieden und sich zu Hause eingeschlossen. Eine Therapie habe er abgebrochen, "weil ich nicht darüber reden wollte". Inzwischen gehe er regelmäßig zu einem Psychologen.

Protest am Rande des NSU-Prozesses. Auf einem Transparent steht: "Das Schweigen brechen - NSU-Terror: Staat & Nazis Hand in Hand" (Foto: DW/M. Fürstenau)
Protest vor dem Münchener Oberlandesgericht, wo in Saal A 101 der NSU-Prozess stattfindetBild: DW/M. Fürstenau

Mit den körperlichen Verletzungen wird Melih K. auf Dauer leben müssen. Die Lendenwirbelsäule sei schief, er könne nichts mehr heben. Im linken Ohr habe er einen bleibenden Hörschaden. Die Folgen der Verbrennungen sehe er jeden Tag, "wenn ich mich anziehe". Für die seelischen Verletzungen macht der heute 34-Jährige auch die Polizei verantwortlich. Er sei verdächtigt worden, etwas mit dem Nagelbomben-Attentat zu tun zu haben. Zu einem späteren Zeitpunkt seien eine DNA-Probe und Fingerabdrücke von ihm genommen worden. Er habe der Polizei gleich gesagt, hinter dem Attentat müssten "Ausländerhasser" stecken. "Dafür muss man ja kein Ermittler sein", fügt Melih K. hinzu. Auf der Zuhörertribüne wird zum Missfallen des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl applaudiert.

Zschäpe hört mit verschränkten Armen zu

Die meisten Zuhörer sind in Bussen aus Köln, Kassel, Göttingen und Berlin extra zum NSU-Prozess nach München gefahren. Sie engagieren sich in der Initiative "Keupstraße ist überall" gegen Rassismus. Vor dem Gerichtsgebäude demonstrieren sie seit dem Morgen gegen staatliche Behörden, insbesondere gegen den Verfassungsschutz. Ihm werfen sie vor, wichtige Erkenntnisse im Zusammenhang mit der NSU-Mordserie und dem Nagelbomben-Attentat zu verschleiern. Mit einer symbolischen Wand aus Aktenordnern erinnern sie an das Schreddern von Akten mit NSU-Bezug kurz nach dem Auffliegen der Terrorgruppe.

Eine Wand aus nachgebildeten Aktenordnern (Foto: DW/M. Fürstenau)
Eine Mauer aus nachgebildeten Aktenordnern wurde vor dem Gerichtsgebäude errichtetBild: DW/M. Fürstenau

Nach Sandro D. und Melih K. sagen zwei weitere Opfer des Bombenattentats in der Kölner Keupstraße aus. Die geschilderten Schicksale ähneln sich teilweise bis ins Detail: Nägel und Splitter im Körper, schwerste Verbrennungen, Angstzustände, falsche Verdächtigungen, Arbeitslosigkeit. Bis Donnerstag werden fast alle Anschlagsopfer und medizinische Sachverständige im NSU-Prozess aussagen. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hört sich die Leidensgeschichten regungslos an - meistens zurückgelehnt mit verschränkten Armen.