"Beweise für Verbrechen"
6. Mai 2015Deutsche Welle: Herr Keller, wie viele sowjetische Kriegsgefangene hat die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gefangen genommen, wie viele starben?
Rolf Keller: Sicher ist, dass mindestens 5,3 und bis zu 5,7 Millionen sowjetische Soldaten in Gefangenschaft geraten sind. Mindestens 2,6 Millionen, wahrscheinlich sogar bis zu 3,3 Millionen kamen in deutscher Gefangenschaft ums Leben, also ungefähr die Hälfte oder sogar mehr. Die Todesrate bei anderen Kriegsgefangenen lag bei maximal zwei Prozent.
In Niedersachsen sind die sowjetischen Kriegsgefangenen die bei weitem größte Opfergruppe der NS-Verbrechen. Es gibt hunderte Friedhöfe, auf denen sowjetische Kriegsgefangene bestattet sind: große Lager-Friedhöfe wie in Bergen-Belsen, auf denen bis zu 20.000 Gefangene begraben sind, aber auch lokale Friedhöfe mit bis zu 20 Kriegsgefangenen der Arbeitskommandos.
Wie ging man mit den Gefangenen um?
Die sowjetischen Kriegsgefangenen galten der Wehrmacht zwar formal als Kriegsgefangene, wurden aber nicht behandelt, wie es nach der Genfer Konvention vorgeschrieben war. Sie wurden vorsätzlich wesentlich schlechter ernährt und behandelt als andere. Mit Selektionsprogrammen wurden zum Beispiel Juden und Politische Kommissare ausgesondert, Kriegsgefangene wurden an die SS ausgeliefert.
Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde von Hitler als "Vernichtungskampf" angekündigt. Der Tod von Millionen sowjetischer Bürger war eingeplant. Die Kriegsgefangenen wurden als Vertreter der "jüdisch-bolschewistischen Weltanschauung" bezeichnet. Die NS-Propaganda bezeichnete sie als "Verbrechertypen", "slawische Untermenschen" und "Abschaum der Menschheit". Nur weil man immer mehr Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie brauchte, brachte man Gefangene nach Deutschland.
In Deutschland gab es "Stalags", Stammlager für Kriegsgefangene, dazu gehört auch Stukenbrock-Senne in Nordrhein-Westfalen, das Bundespräsident Gauck für seinen Gedenkbesuch an diesem Mittwoch ausgewählt hat. Wie sah das Leben in diesen "Stalags" aus?
Die ersten "Stalags", die Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager, wurden als Barackenlager für Polen, Belgier, Franzosen, britische Gefangene, Serben und andere eingerichtet. Sie dienten zur Verteilung auf Arbeitseinsätze bei Firmen oder in der Landwirtschaft. Für die sowjetischen Kriegsgefangenen gab es ab 1941 etwas ganz Neues, die sogenannten "Russen-Lager": zwölf große Lager für 20.000 bis 50.00 Gefangene vor allem in Schlesien, Sachsen, Niedersachsen und auch in Stukenbrock-Senne in Westfalen. Dort gab es keine Baracken mit Schlafplätzen und hygienischen Einrichtungen, sondern nur freie Flächen umgeben von Stacheldraht und Wachtürmen.
Die Gefangenen mussten bis in den Winter unter freiem Himmel campieren. Mit ihrem Essgeschirr gruben sie sich Höhlen in die Erde, um Schutz vor der Witterung zu haben. Wir haben Dokumente ausgewertet, Abgangslisten und Friedhofsregister, da ist häufig als Todesursache vermerkt: "In der Erdhöhle erstickt". Das waren grauenhafte Zustände. Weil die Gefangenen nicht genug zu essen bekamen, haben sie Baumrinde gegessen und die Erde nach Würmern durchwühlt. Es haben sich sehr schnell Krankheiten ausgebreitet, sodass spätestens im Oktober 1941 ein Massensterben einsetzte. In den großen "Russen-Lagern" sind täglich bis zu 300 Gefangene gestorben, die in Massengräbern verscharrt wurden.
Sollten die Gefangenen nicht eigentlich arbeiten?
Ja, der Widerspruch war, dass die Gefangenen schwere körperliche Arbeiten leisten sollten bei Bauvorhaben oder der Entwässerung in den Mooren, aber sie waren dazu gar nicht in der Lage. Es gab Beschwerden der Arbeitgeber, dass diese Gefangenen nur 10 Prozent dessen leisten konnten, was die Franzosen vorher geleistet hatten, man sollte sie besser ernähren. Aber von deutscher Seite wurde nie eine ausreichende Versorgung dieser Gefangenen sichergestellt. Als später viele an Tuberkulose erkrankten, richtete man "Sterbelager" ein, wo die unheilbar Kranken sich selbst überlassen wurden.
Wie ging es den Gefangenen nach der Befreiung 1945?
Es gab den berüchtigten Stalin-Befehl Nr. 270, in dem es heißt, dass der sowjetische Soldat sich nicht in Gefangenschaft begibt. Jeder Gefangene wurde als Verräter bezeichnet. Ihm und seiner Familie drohte Strafe. Die Rückkehrer aus Deutschland wurden zudem als potenzielle Kollaborateure betrachtet: Wie konnte man vier Jahre in Deutschland unter diesen schrecklichen Bedingungen überleben, wenn man nicht mit den Deutschen zusammengearbeitet hatte? Viele durften nicht nach Hause zurück, sondern kamen in den Gulag, in die Lager des sowjetischen Geheimdienstes, oder in Strafbataillone. Auch die anderen belastete der Makel der Gefangenschaft ein Leben lang. Das Thema war selbst in der eigenen Familie tabu. Die Überlieferung ist schlecht, bis heute gibt es nur wenige Berichte.
Auch in Deutschland hat das Thema nach dem Krieg keinen interessiert und es wurde - auch im Zeichen des Ost-West-Konflikts - bis in die 1990er Jahre ausgeblendet, obwohl das im Krieg alle mitbekommen hatten, weil es fast in jedem Ort Arbeitskommandos mit Kriegsgefangenen gab. Bauern schrieben Rechnungen, weil hungrige Gefangene Steckrüben aus dem Boden rissen. Viele Gefangene, die sich bei der Suche nach Essen von der Arbeit entfernten, wurden von den Wachmannschaften erschossen.
Sie haben für die Dokumentation in Bergen-Belsen Überlebenden-Berichte gesammelt. Welcher Bericht hat Sie besonders beeindruckt?
Mark Tilewitsch war ein Gefangener im Lager Wietzendorf, wo die Gestapo mithilfe der Wehrmacht und Spitzeln unter den Gefangenen nach kommunistischen Funktionären und nach Juden suchte. Tilewitsch war Politoffizier und Jude. Weil seine Eltern Atheisten waren, war er nicht beschnitten. Keiner seiner Kameraden hat ihn verraten, sodass er der Aussonderung entging und damit der Exekution per Genickschuss in einem KZ. 13.000 sowjetische Kriegsgefangene wurden 1941 allein im KZ Sachsenhausen bei Berlin erschossen.
Tilewitsch kam in ein Arbeitskommando im Moor und unternahm zwei Fluchtversuche. Daraufhin wurde er formal aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und von der Gestapo übernommen, die ihn der SS übergab. Im KZ Sachsenhausen gehörte er zum internationalen Lagerkomitee und bereitete die Selbstbefreiung vor. In der Fahndungsmeldung der Gestapo nach seiner Flucht hatte gestanden: "jüdischer Typ". Es ist ein Wunder, dass er überlebt hat.
Welchen Wunsch haben die Gefangenen heute an Deutschland?
Sie haben ein gespaltenes Verhältnis zu Deutschland und dem eigenem Heimatland. Ein russischer Historiker schrieb, "am Ende waren sie Opfer zweier Diktaturen". Sie sind dankbar, wenn man sich für ihr Schicksal interessiert und auch für Gesten wie die des Berliner Vereins "Kontakte", der Überlebenden 300 Euro aus Spenden gezahlt hat. Viele brauchen das Geld. Man schätzt, dass es noch etwa 2000 Überlebende gibt: hochbetagt, oft krank, viele mit einer kleinen Rente, von der sie sich kaum die Medikamente leisten können, die sie brauchen.
In Deutschland streitet man über Entschädigungszahlungen. Die steht Kriegsgefangenen regulär nicht zu - wie sehen Sie das im Fall der sowjetischen Kriegsgefangenen?
Kriegsgefangene hätten laut Genfer Konvention genauso versorgt werden müssen wie die deutschen Soldaten. Das ist bei sowjetischen Kriegsgefangenen vorsätzlich nicht passiert. Aus Sorge vor weiteren Forderungen hat die deutsche Seite Entschädigungszahlungen an Kriegsgefangene kategorisch abgelehnt. Das ist rechtlich ein Dilemma und auch ethisch-moralisch. Eine Anerkennung außerhalb des formalen Begriffs "Entschädigung" wäre wünschenswert. Die Oppositionsparteien Linke und Grüne verweisen ja darauf, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen Opfer des NS-Staats sind. Für mich als Historiker liegt das klar auf der Hand. Für diese NS-Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen gibt es mittlerweile genug Beweise. Die Kriegsgefangenen wünschen sich, dass die deutsche Seite sich öffentlich dazu bekennt. Bundespräsident Gauck hat die Verbrechen konstatiert, aber es fehlt noch eine Positionierung des Bundestags.
Der Historiker Rolf Keller forscht seit über 25 Jahren zum Thema "Sowjetische Kriegsgefangene". Er hat in einem deutsch-russischen Forschungsprojekt mitgearbeitet, das die deutschen Gefangenen-Akten ausgewertet hat, die 1945 nach Moskau gebracht wurden. Als Leiter der Gedenkstättenförderung im Niedersachsen hat er auch Kontakt zu Überlebenden.
Das Interview führte Andrea Grunau.