Notre-Dame-Brand belebt das Handwerk
15. Oktober 2019"Notre-Dame brennt!" Als Guillaume Auzeray am 15. April diese Nachricht hörte, konnte er es kaum fassen. Noch während sie brannte, fuhr er zu der Pariser Hauptkathedrale, um das Unglück mit eigenen Augen zu sehen. Eine Stunde stand er stumm da und beobachtete, wie die Flammen das Jahrhunderte alte Gewölbe auffraßen.
"Es hat richtiggehend wehgetan, das mit ansehen zu müssen", erinnert sich Auzeray. "Als wenn man jemandem beim Sterben zusieht." Auzeray hatte sich dem Gebäude schon immer besonders verbunden gefühlt. Als Kind war er jedes Wochenende dort. Sein Lieblingsbuch ist "Der Glöckner von Notre-Dame" von Victor Hugo. "Mir fiel beim Anblick des Feuers spontan der altgriechische Begriff 'Ananke' ein, der auch bei Hugo eine große Rolle spielt und 'Schicksal' bedeutet", so Auzeray.
Sprunghafter Anstieg der Lehrlingszahlen
Am nächsten Tag fasste er einen Beschluss. "Ich hatte sowieso schon lange mit dem Gedanken gespielt. Dann war das Feuer für mich der ausschlaggebende Grund, mich als Steinmetz zu bewerben", sagt der 24-Jährige, der zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch Kunstgeschichte studierte. "Notre-Dame ist Teil des großen französischen Architektur-Erbes. Und viele unserer alten Gebäude brauchen dringend eine Renovierung. Dazu möchte ich meinen Teil beitragen."
Auzeray gehört zu den insgesamt 100 Auszubildenden, die im September ihren Lehrgang als Steinmetz bei Les Compagnons du Devoir, der französischen Handwerkervereinigung, aufgenommen haben. Das seien zehn Prozent mehr als im vergangenen Jahr, sagt Elsa Fontanille, die Sprecherin der Organisation. "Das Feuer in Notre-Dame war für viele junge Leute ein Erweckungserlebnis", fügt sie hinzu. Die Anzahl der Auszubildenden auch anderer Handwerksberufe, die für den Wiederaufbau der Kirche nötig sind, sei gestiegen - auf bis zu ein Fünftel verglichen mit 2018. Dazu zählen Dachdecker, Tischler und Maurer.
Knapper Zeitplan
Hunderte Handwerker werden benötigt, um Notre-Dame zu restaurieren. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verspricht, dass die Arbeiten innerhalb von fünf Jahren abgeschlossen sein sollen. "Wir sind eine Nation der Baumeister und wir werden die Kathedrale noch viel schöner wieder aufbauen, als sie ohnehin schon war", so Macron in einer Fernsehansprache kurz nach dem Unglück. Das Feuer hatte den Dachstuhl zerstört, die Außenmauern stark beschädigt und den Dachreiter zum Einsturz gebracht. Experten zweifeln allerdings an dem Fünf-Jahres-Ziel: Angesichts der Komplexität der Aufgabe müsse man eher zehn bis 15 Jahre veranschlagen.
Auf jeden Fall will die Regierung, dass auch Auszubildende beim Wiederaufbau dabei sind. Nur wenige Tage nach dem Brand startete sie ein Programm, um junge Leute in die betreffenden Berufe zu bringen. Dazu zählt die Einrichtung von Ausbildungszentren im ganzen Land. Die sogenannten Chantiers de France (Baustellen Frankreichs) werden an historische Stätten angeschlossen sein, die gerade renoviert werden. Die prominenteste wird direkt neben Notre-Dame eingerichtet. Die Auszubildenden werden dort für eine kurze Zeitspanne die Möglichkeit haben, ein Team von versierten Profis zu unterstützen.
Lernen im historischen Ambiente
Diese Möglichkeit hat auch Joseph Day gereizt. Der 16-Jährige hat als einer von 500 angehenden Tischlern dieses Jahr die Lehre begonnen. Auch für ihn war der Brand der Kathedrale der Auslöser. "Ich war richtig in Trauer wegen dieses Unglücks und habe sofort eine E-Mail an einen der Leiter der Handwerksorganisation geschickt, um mein Bedauern auszudrücken", sagt er. Er wäre begeistert, wenn er beim Wiederaufbau von Notre-Dame helfen könnte: "Das wäre eine formidable Möglichkeit, mich fortzubilden."
Frederic Letoffe hofft, dass dieser Enthusiasmus auch andere ansteckt - und das langfristig, über Notre-Dame hinaus. Er ist stellvertretender Präsident der Groupement des Monuments Historiques. Dieser Vereinigung gehören 200 Unternehmen an, die sich auf die Renovierung historischer Bauten spezialisiert haben.
"Das Problem ist nicht, kurzfristig ein paar hundert Handwerker zu finden, die Notre-Dame wieder aufbauen. Das Problem ist eher ein genereller Mangel an Handwerkern. Das gefährdet die Zukunft der Branche", klagt er. Die Berufe hätten einfach ein schlechtes Image in Frankreich. "Eine handwerkliche Ausbildung gilt als etwas für Leute, die es nicht an die Uni geschafft haben", erklärt Letoffe.
Elsa Fontanille von Compagnons findet das widersprüchlich: "Einerseits empfinden die Menschen Bauwerke wie Notre-Dame als etwas Nobles - nicht aber die Berufe derer, die solche Gebäude bauen oder renovieren." Tischler-Lehrling Day kann dem nur zustimmen: "Es ist doch toll, etwas mit den eigenen Händen zu machen. So eine Ausbildung ist genau das richtige für Leute, die keine Lust haben, ewig lang in die Schule zu gehen. Für Leute, die direkt ins Berufsleben starten wollen."