Non, Nee, Nizza
3. Juni 2005Nach der deutlichen Ablehnung der EU-Verfassung durch die Franzosen und die Niederländer wird das Vertragswerk in seiner jetzigen Form kaum in Kraft treten. Damit ist jedoch weder dem europäischen Integrationsprozess die juristische Grundlage entzogen, noch droht die EU in einen Zustand der Rechtlosigkeit zu taumeln. Denn weiterhin gilt der gemeinhin ungeliebte Vertrag von Nizza, der ohnehin erst 2007 von der Verfassung abgelöst worden wäre.
Kompliziertes Prozedere
Dieser Vertrag, der die Handlungsfähigkeit der vor ihrer Erweiterung stehenden EU gewährleisten sollte, genießt innerhalb der Union allerdings kein hohes Ansehen. Die Verhandlungen im Jahr 2000 gestalteten sich äußerst schwierig und führten zu kurzfristigen Zerwürfnissen - insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich. Denn zur Debatte standen umstrittene Fragen wie Abstimmungsmodalitäten und Zuständigkeiten. Als im Dezember 2000 der Kompromiss endlich auf dem Tisch lag und abgesegnet wurde, waren sich die Unterzeichner über die Unzulänglichkeiten des Vertrags im Klaren. Sogleich wurde der "Post-Nizza-Prozess" eingeläutet, der übrig gebliebene Fragen klären sollte.
Das Hauptproblem des Nizza-Vertrags ist zugleich der Grund für die langwierigen Verhandlungen über die EU-Verfassung: die komplizierten Abstimmungsregeln. Erst nach zähem Ringen konnte man sich im Verfassungskonvent auf ihre Vereinfachung einigen. Denn gegenwärtig ist die Gewichtung der Stimmen im Ministerrat zu undurchsichtig und zu viele Entscheidungen müssen einstimmig gefällt werden.
Doppelt und dreifach
So gilt momentan bei Entscheidungen, die im Ministerrat zu treffen sind, eine dreifache Mehrheit: Zunächst muss im Ministerrat eine Stimmenmehrheit vorliegen, die bei 232 von 321 möglichen Stimmen liegt. Diese Stimmen müssen von der Mehrheit der Mitgliedsstaaten kommen. Und schließlich muss diese Mehrheit 62 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.
Das ist nicht nur kompliziert, sondern auch ungerecht, wie manche Beobachter meinen. Denn den Mitgliedsstaaten stehen zwischen drei und 29 Stimmen zur Verfügung. Die Zahl dieser so genannten gewichteten Stimmen steht allerdings teilweise in einem Missverhältnis zur Größe des jeweiligen Landes. So hat Deutschland 29 Stimmen, während die wesentlich bevölkerungsärmeren Länder Polen und Spanien jeweils mit 27 Stimmen votieren dürfen.
Die EU-Verfassung würde diese hohen Hürden etwas tiefer setzen. Statt der dreifachen reichte schon eine doppelte Mehrheit aus. 55 Prozent der Staaten, die zugleich 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, wären dann entscheidungsfähig - und Blockaden nicht mehr so leicht möglich.
Ministerrat und Europäisches Parlament würden durch die EU-Verfassung gestärkt und dürften in mehr Politikfeldern als bisher entscheiden. So dürfte das Parlament den Kommissionspräsidenten auf Vorschlag der Regierung wählen.
Einstimmig in die Blockade?
Problematisch an "Nizza" ist auch das Prinzip der Einstimmigkeit, das in wesentlichen Politikbereichen wie Steuern, soziale Sicherheit, Handelspolitik und Mitbestimmung gilt. Ein einziges Veto kann hier Entscheidungen blockieren. Bei Fragen der inneren Sicherheit, der Außen-, Steuer- und Finanzpolitik kann nach der EU-Verfassung künftig schon eine doppelte Mehrheit entscheiden. Allerdings gilt als eine Art Notbremse auf vielen Gebieten weiterhin ein Vetorecht, das jedoch auf vier Monate befristet ist.
Für weitere Beitritte jenseits der EU der 27 ist die Union mit dem gegenwärtigen Nizza-Vertrag erst recht nicht gerüstet: Weder im Hinblick auf die Stimmenzuteilung im Ministerrat noch auf die Sitze im Europäischen Parlament sieht der Vertrag Regelungen vor. Eine Modifizierung ist damit unausweichlich.
Im Prinzip könnten zumindest einige Fallstricke des ungeliebten Nizza-Vertrags dadurch ausgeräumt, dass man einzelne Teile der Verfassung in Kraft treten lässt. Das allerdings wäre mit einem erneuten Kraftakt verbunden: Der Vertrag kann nur mit der Zustimmung aller 25 Mitgliedsstaaten geändert werden. In einer Reihe von Ländern wären dann wieder Referenden nötig.