Nigerias Anti-Terror-Strategie geht nicht auf
6. November 2014Für Emman Usman Shehu ist es nicht weniger als eine "Schande". Nigerias Regierung habe sich vor der eigenen Bevölkerung und der ganzen Welt völlig blamiert, indem sie offiziell einen Waffenstillstand mit der islamistischen Terrormiliz Boko Haram verkündete, sagt der Direktor des Internationalen Instituts für Journalismus in der Hauptstadt Abuja. Der Ankündigung zufolge hätte nicht nur die Gewalt eingestellt werden sollen. Auch die mehr als 200 von Boko Haram entführten Schülerinnen sollten angeblich freigelassen werden.
Waffenstillstand gescheitert
Nichts davon ist passiert. Die Erklärung sei also eine bloße Täuschung der Öffentlichkeit gewesen, klagt Shehu, der sich unter anderem in der Gruppe "BringBackOurGirls" engagiert. Ihr Ziel: die Regierung von Präsident Goodluck Jonathan dazu bewegen, sich entschlossener für die Entführungsopfer von Boko Haram einzusetzen.
Tatsächlich dementierte der selbsternannte Chef der Aufständischen, Abubakkar Shekau, inzwischen eine Vereinbarung mit der Regierung und eine mögliche Freilassung der vor mehr als einem halben Jahr entführten Mädchen. Und seine Kämpfer überziehen das Land mit einer neuen Gewaltwelle, unter anderem mit blutigen Anschlägen gegen schiitische Muslime. Sie ermordeten einen bekannten gemäßigten sunnitischen Geistlichen und nahmen weitere Städte im Nordosten Nigerias ein. In den von ihnen kontrollierten Gebieten führen die Islamisten offenbar inzwischen regelmäßig öffentliche Bestrafungen angeblicher Übeltäter durch - nach ihrer strengen Auslegung des islamischen Rechts. Dies sei "Praxis" unter der Herrschaft Boko Harams geworden, bestätigt ein Augenzeuge aus der Stadt Mubi der DW und berichtete, dass mutmaßlichen Dieben in seiner Heimatstadt die Hände amputiert würden.
Verhandlungen mit falschen Terroristen
Dem Aufstand von Boko Haram fielen allein 2014 bereits 5000 Menschen zum Opfer. Ziel der Gruppe ist nach eigenen Erklärungen die Errichtung eines Gottestaates im Norden Nigerias. Inzwischen verfügen die Kämpfer auch über Stellungen in den Nachbarländern Kamerun, Tschad und einigen Darstellungen zufolge auch in Niger.
Immer mehr Gebiete fielen derzeit unter die Kontrolle des von Boko Haram ausgerufenen Kalifats, sagt Ryan Cummings vom südafrikanischen Sicherheitsdienstleister Red24. Auch der Experte bezweifelt, dass es tatsächlich einen echten Waffenstillstand zwischen der Regierung und Boko Haram gegeben hat. "Die Frage ist, mit wem die Regierung da genau verhandelt hat?", sagt Cummings. Seiner Einschätzung nach wisse Nigerias Regierung nicht genug über die Miliz, ihren Aufbau und ihre Strukturen. Deshalb sei nicht sicher, dass sie tatsächlich mit Unterhändlern der Führung von Boko Haram gesprochen habe. Dazu komme, dass der Waffenstillstand nur einseitig verkündet wurde, ohne eine Erklärung des selbst ernannten Boko-Haram-Chefs Shekau.
Auch nach dem offenkundigen Scheitern des Waffenstillstands stellen sich die nigerianischen Sicherheitskräfte den vorrückenden Aufständischen bislang kaum in den Weg. Im Gegenteil: Bewohner bedrohter Gebiete berichteten der DW am Donnerstag (06.11.2014), dass die Arme sich von Kontrollposten in der Umgebung von Yola, der Hauptstadt des Bundesstaats Adamawa, zurückgezogen hätten. Boko Haram hatte zuvor die Nachbarstadt Mubi eingenommen und als nächstes die Eroberung von Yola angekündigt.
Mehr Schaden als Nutzen durch das Militär
Aus Sicht des Nigeria-Kenners Cummings ist der Anti-Terror-Kampf von Präsident Goodluck Jonathan auf ganzer Linie gescheitert. Cummings weist darauf hin, dass bereits in den vergangenen beiden Jahren angebliche Waffenstillstände mit Boko Haram erfolglos waren, ebenso wie mehrere groß angelegte Militäroffensiven. Vor allem das militärische Vorgehen habe mehr Schaden angerichtet, als Sicherheit gebracht. "Die Anti-Terror-Operationen haben in etwa so viele Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert wie die Gewalt von Boko Haram", sagt Cummings. So hätten die Sicherheitskräfte das Vertrauen der Zivilisten in den betroffenen Regionen verloren und auch ihre wichtigsten Informanten, ohne die eine Bekämpfung der Terroristen unmöglich sei. Zudem fehlten Nigeria für den Kampf gegen Boko Haram die nötigen Mittel und das entsprechende Personal. "Die Streitkräfte leiden unter Korruption und Meutereien. Die Soldaten müssen teilweise ohne ausreichende Munition in den Kampf ziehen".
Der Einzige Ausweg für Nigerias Regierung, glaubt Cummings, sei ein echter Waffenstillstand mit Boko Haram. Nur so könne die notwendige Ruhe und Sicherheit hergestellt werden, um die Ursachen des Aufstands - Armut, Unterentwicklung und Analphabetismus in Nigerias vernachlässigtem Nordosten - zu bekämpfen. Viele Nigerianer glauben allerdings gar nicht mehr, dass ihr Präsident überhaupt Interesse an einer Lösung der Krise dort habe. "Die Aufständischen kontrollieren schon eine Fläche, die etwa dreieinhalb Bundesstaaten entspricht. Und was macht unser Präsident?", fragt der Aktivist Emman Usman Shehu rhetorisch. "Er fliegt ins Nachbarland Burkina Faso, um deren Staatskrise zu lösen, während sein eigenes Haus in Flammen steht. Das ist doch lächerlich!"