Wählen in Zeiten des Terrors
15. Januar 2015Ganze Ortschaften ausgelöscht, die Stadt Baga im Bundesstaat Borno an der nigerianisch-tschadischen Grenze ist auf Satellitenbildern nicht wiederzuerkennen - immer mehr grausame Details werden über den Angriff von Boko Haram am 3. Januar bekannt. "Ich habe über hundert Tote gesehen", berichtete ein Augenzeuge. "Während wir wegrannten, haben sie [Boko Haram] weiter geschossen und gemordet."
Die Menschen haben Angst - wie sollen sie da an Wahlen denken, fragt sich Stephen Oguntoyinb vom Social Media-Netzwerk Talk Village International. In knapp vier Wochen (14.02.2015) finden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. In dem bevölkerungsreichsten Staat Afrikas sind fast 69 Millionen Menschen wahlberechtigt.
"Wenn ich sehe, was dort gerade im Nordosten unseres Lands passiert, habe ich das Gefühl, dass unsere Regierung die Lage überhaupt nicht unter Kontrolle hat." Eigentlich will Oguntoyinb die Jugendlichen im Land über seine Plattform ermuntern, wählen zu gehen. Doch er ist vorsichtig: "Es ist viel zu gefährlich für die Menschen in den Bundesstaaten, die unter der Kontrolle von Boko Haram stehen, überhaupt rauszugehen und ihre Stimme abzugeben."
Wählen um jeden Preis?
Die Nationale Wahlkommission (INEC) bemüht sich unterdessen, die Gefahren so gut es geht zu reduzieren. "Wir arbeiten mit Sicherheitsagenturen zusammen, um sicherzustellen, dass keine Gefahr für die Menschen besteht, so dass jeder Wähler in einer sicheren Umgebung sein Kreuz machen kann," sagte INEC-Pressechef Nick Pazang der DW. "Wir haben die Regionen in die Risikogruppen hoch, mittel und gering eingeteilt. Und je nach Risikogruppe werden wir Sicherheitspersonal einsetzen."
In den drei Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa im Norden Nigerias herrscht wegen der Anschläge Boko Harams der Ausnahmezustand. Die Wahlkommission werde sicherstellen, dass "überall im Land gewählt werden kann", so Pazang.
"Viele Einwohner der drei Bundesstaaten sind Inlandsflüchtlinge. Viele leben in provisorischen Camps", sagte Pazang. Mehrere hunderttausend Menschen haben den Nordosten Nigerias inzwischen verlassen und sich in andere Landesteile und die Hauptstadt Abuja geflüchtet. Das UN-Flüchtlingshilfswerk schätzt die Zahl der Inlandsflüchtlinge auf 650.000. "Die Camps werden von der jeweiligen Regionalregierung repräsentiert. Wir als Wahlkommission wollen versuchen, dass jeder wahlberechtigte Flüchtling auch die Möglichkeit bekommt, seine Stimme abzugeben."
Nicht im Land - keine Wahl
Nicht wählen dürfen hingegen die zehntausende Flüchtlinge, die in Nachbarländer wie Kamerun oder Benin geflohen sind. "Das Gesetz erlaubt es nicht, eine Wahl außerhalb des Staatsgebietes Nigerias abzuhalten", so Pazang. Über die genaue Zahl der Betroffenen ist sich allerdings auch die INEC nicht im Klaren, gibt Pazang zu.
Doch die Sicherheitslage ist nicht die einzige Sorge, welche die Nigerianer von den Wahlen abhalten könnte. Probleme gibt es nämlich auch mit der Wähleridentifizierungskarte, die jeder Wähler braucht, um überhaupt seine Stimme abgeben zu können. "Die Ausgabe der Wählerkarten ist ein totales Chaos", berichtet der Student Bello Dayo Tajudeen aus Lagos. "Ich wollte meine Karte abholen, da sagten sie, die sei noch nicht fertig, ich solle später nochmal wiederkommen. Auch Studenten an meiner Universität, dem Lagos State College of Health Technology, haben bisher noch keine Wählerkarte."
Angst vor Gewalt nach der Wahl
Es sind nicht nur die Nigerianer, die mit Bangen dem Wahltag entgegenfiebern. Das Ausland beobachtet nach den jüngsten Anschlägen umso genauer, wie sich Nigerias Politiker in diesen Tagen äußern. Die USA haben Nigeria unterdessen dazu aufgefordert, die Abstimmung trotz der Gewalt abzuhalten.
Doch viele Nigerianer fürchten nicht allein eine Eskalation durch Boko Haram. Auch Politiker der großen Parteien könnten die prekäre Sicherheitslage dafür nutzen, eine Wahlniederlage anzuzweifeln mit der Begründung, die Menschen hätten nicht wählen gehen können. Der ehemalige UN-Generalsekretär und Friedensnobelpreisträger Kofi Annan warnte während eines Staatsbesuches in Nigeria am Mittwoch (14.01.2015) bereits vor Gewaltausbrüchen und verlangte von Amtsinhaber Goodluck Jonathan, Herausforderer Muhammadu Buhari und neun weiteren Präsidentschaftskandidaten die Zusicherung, dass sie das Wahlergebnis akzeptieren werden.