Die verlassenen Eltern von Chibok
13. April 2016"Wir danken Dir, Vater, dass wir noch unter den Lebenden sind. Wir danken Dir, dass Du uns auf dem Weg nach Chibok vor Schwierigkeiten bewahrt hast." Die Worte des Gebets, das mehrere dutzend Männer und Frauen gemeinsam am Rande des nordnigerianischen Dorfes Chibok sprechen, sind schlicht, deutlich und eindringlich.
Sie markieren den Auftakt eines historischen Ereignisses. Fast alle Teilnehmer sind Eltern, die in der Nacht zum 15. April 2014 ihre Töchter verloren haben, als die Terrormiliz Boko Haram hunderte Schülerinnen aus einer weiterführenden Schule entführte. Von 219 Mädchen fehlt auch zwei Jahre später fast jede Spur. Zum ersten Mal treffen sich die Eltern am Tatort.
Eines der Opfer ist Saraya Stover. Ob die damals 16-Jährige noch lebt? Ihre Mutter Monica ist skeptisch. "Als ich von der Entführung hörte, habe ich alle Hoffnung verloren", sagt sie. Ihre leise Stimme klingt müde und ausdruckslos. Sie wirkt leer und hat nicht einmal mehr Tränen in den Augen, als sie weiter spricht: "Ich kann mir nicht vorstellen, meine Tochter noch einmal wiederzusehen."
Nur ein altes Foto bleibt
Monica Stover kramt aus ihrer Handtasche ein kleines Fotos hervor. Das Bild ist überbelichtet. Saraya trägt ein weißes Kleid, die Konturen sind schwach und die Gesichtszüge des Mädchens kaum zu erkennen. Die Mutter hängt trotzdem an dieser kostbaren Erinnerung. Es ist eines der wenigen Fotos, die sie noch hat.
Doch es ist nicht nur der Verlust der Tochter, der sie quält. Es ist auch das Verhalten der Regierung, das das Leid so unerträglich macht: "Mit uns hat niemand gesprochen. Von der Regierung hören und sehen wir nichts. Wir haben Informationen immer nur in den Nachrichten gehört. Aber für uns Eltern, die wir in Chibok leben, gab es nichts." Der Gedenkfeier, die am Donnerstag, dem Jahrestag der Entführung, in Chibok stattfindet, stimmte die Regierung nach langem Hin und Her erst vergangene Woche zu.
Erinnern und politischer Druck
Unterstützung gibt es allerdings von der Murtala-Muhammed-Stiftung, die auch das Treffen in Chibok initiiert hat. Namensgeber ist General Murtala Muhammed, der von 1975 bis zu seiner Ermordung 1976 Militärherrscher in Nigeria war. Die Stiftung setzt sich nach eigenen Angaben für gute Regierungsführung ein - und dafür, Mädchen eine bessere Bildung zu ermöglichen. Geleitet wird sie heute von Muhammeds Tochter Aisha Muhammed-Oyebode. Seit der Massenentführung setzt sie sich auch für die Eltern von Chibok ein. Einige von ihnen trifft sie regelmäßig in Lagos und Abuja.
Nur mit einer schwer bewaffneten Militäreskorte war es Muhammed-Oyebode möglich, nach Chibok zu gelangen. Jede Reise durch die entlegene Region ruft in Erinnerung: Hier in Nordnigeria ist es leicht, Menschen verschwinden zu lassen. Das Treffen der verlassenen Eltern bewegt Aisha Muhammed-Oyebode sichtlich. Sie nimmt eine Mutter lange in den Arm. Später bedanken sich viele der Frauen bei ihr. Bei Trauerarbeit soll es aber nicht bleiben: "Wir werden weiter hart daran arbeiten, dass ihre Töchter doch noch gefunden werden", sagt sie und macht noch einen weiteren Vorschlag: "Ich finde, der Wiederaufbau der Schule wäre ein wichtiges Symbol."
Ohne Schutz in Chibok gelassen
Sie wendet sich um und blickt zum Schulgebäude, von dem nur noch die Mauern stehen. Dies war der Schauplatz der schrecklichen Entführung. Allerdings war es nicht die einzige: In den vergangenen Jahren gerieten tausende Mädchen, Jungen und Frauen in die Fänge von Boko Haram. Niemand weiß, wie viele noch verschwunden sind. Dass einige gefunden und befreit werden und andere nicht, ist wohl eher dem Zufall geschuldet.
Dass vor zwei Jahren ausgerechnet Chibok angegriffen wurde, dürfte jedoch nicht bloß reiner Zufall gewesen sein. Elternvertreter Yakubu Nkeki beklagt, dass die Regierung aus Sicherheitsgründen Schulen im Bundesstaat Borno erst schließen und zwei Wochen später doch wieder öffnen ließ, ohne für mehr Sicherheit zu sorgen. Vor lauter Wut brüllt er fast in das Mikrofon. "Die Mädchen waren ganz alleine ohne jeglichen Schutz hier. Ohnehin gab es für ganz Chibok nur 15 Soldaten." Für eine Terrorgruppe waren die Schülerinnen deshalb eine extrem leichte Beute.
Gedenkfeiern helfen wenig
Langsam wird es für Aisha Muhammed-Oyebode Zeit zum Aufbruch. Die Fahrt nach Yola, der Hauptstadt des angrenzenden Bundesstaates Adamawa, dauert ohne Pannen knapp sechs Stunden. Auch Monica Stover hat das Foto ihrer Saraya wieder eingepackt. Sie muss zurück in den tristen Alltag, zur Untätigkeit verdammt. Die geplante Gedenkfeier ist für sie nicht einmal eine willkommene Abwechselung: "Gedenkveranstaltung oder nicht - das ist für uns nicht wichtig", sagt sie achselzuckend. Denn solche Anlässe brächten die entführten Mädchen von Chibok nicht zurück.