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Boko Haram noch nicht am Ende

Jan-Philipp Scholz21. Dezember 2015

Bis Jahresende ist die Terrororganisation Boko Haram besiegt - so lautete das Verspechen von Nigerias neuem Präsidenten Muhammadu Buhari. Kann er sein Wort noch halten? Jan-Philipp Scholz berichtet aus Nigeria.

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Nigeria - Soldaten an der Grenze zu Niger (Foto: ISSOUF SANOGO/AFP/Getty Images)
Im Norden Nigerias helfen Soldaten aus den Nachbarländern - hier aus dem Niger - beim Kampf gegen Boko HaramBild: Getty Images/AFP/I. Sanogo

Der PR-Erfolg für den neuen Präsidenten könnte kaum größer sein. Islamisten haben einen Slum in Yola, einer der größten Städte Nordost-Nigerias, unter ihre Kontrolle gebracht. Muhammadu Buhari, ein ehemaliger General, hat gerade erst die Macht im Land übernommen - und er zögert nicht. Er fliegt selbst ins Krisengebiet und überwacht persönlich das Vorgehen seiner Armee. Der Slum wird kurzerhand zum Sperrgebiet erklärt und die Soldaten, so berichten Überlebende, erobern mit Feuerwaffen und Sprenggranaten Straße für Straße den Stadtteil zurück. Kurze Zeit später, Anfang März 1984, gibt die islamistische Sekte, die unter dem Namen Maitasine bekannt wurde, auf.

Gut dreißig Jahre später, im Jahr 2015, könnte sich die Geschichte wiederholen. Das ist jedenfalls die Hoffnung vieler Nigerianer. Erneut steht Muhammadu Buhari an der Spitze des States. Doch im Gegensatz zu damals, als er nach einem Militärputsch die Macht übernahm, haben ihn die Nigerianer im März 2015 in einer demokratischen Wahl zu ihrem Präsidenten gemacht. Und auch ein gutes halbes Jahr nach seinem Amtsantritt feiern ihn viele Nigerianer wie einen Erlöser. "Er ist und bleibt der Messias unserer Nation", so ein Geschäftsmann im nordnigerianischen Kaduna. "Er meint es ernst und er wird alles hinbekommen."

"Die Deadline war ein Fehler"

Bei seinem Amtsantritt im Mai versprach Buhari, die Terrorgruppe Boko Haram, die seit inzwischen mehr als sechs Jahren weite Teile Nordost-Nigerias unsicher macht, zu besiegen - bis zum Jahresende. "Das war ein Fehler des Präsidenten", sagt der Politikwissenschaftler Jibo Ibrahim, der beim Nigerianischen Zentrum für Demokratie und Entwicklung arbeitet. "Wir haben es mit einem massiven Terrorproblem zu tun. Mit einer so klaren Frist hat sich Buhari keinen Gefallen getan."

Als Buhari diese Deadline setzte, habe er noch gar nicht wissen können, wie stark die Terroristen wirklich sind, so Ibrahim. Denn während die Aufständischen in den Achtzigerjahren größtenteils mit Macheten, Buschmessen und Pfeilen bewaffnet waren, verfügt Boko Haram über modernste Kriegsausrüstung - und über eine regelrechte Armee aus Selbstmordattentätern. Mehrere Hundert sollen es allein in den am stärksten betroffenen Regionen im Nordosten des Landes sein, heißt es aus Geheimdienstkreisen.

Muhammadu Buhari hat Boko Haram den Kampf angesagt (Foto: AP Photo/Cliff Owen)
Muhammadu Buhari hat Boko Haram den Kampf angesagtBild: picture-alliance/AP Photo/C. Owen

Längst nicht alle Gebiete unter Kontrolle

Wie wahrscheinlich ist es also, dass der Präsident unter diesen Bedingungen sein Versprechen halten kann? Buharis größtes Pfund ist sein Ansehen im Militär. Unter seinem Vorgänger Goodluck Jonathan schienen wichtige Teile der nigerianischen Armee nur noch aus demotivierten Soldaten und korrupten Vorgesetzen zu bestehen. Zurzeit läuft ein Verfahren gegen Jonathans ehemaligen Sicherheitsberater Sambo Dasuki. Hunderte Millionen Euro, die für den Kampf gegen die Terroristen bestimmt waren, soll er veruntreut haben. Unter dem ehemaligen General Buhari hingegen scheint das Militär wieder deutlich an Disziplin hinzugewonnen zu haben. Die Soldaten konnten weite Teile des von Boko Haram kontrollierten Gebiets zurückerobern.

Doch keine zwei Wochen vor Ende von Buharis Frist sind längst nicht alle Regionen im Nordosten unter Kontrolle des Militärs. Erst Ende November wurde eine Armeebasis im nordnigerianischen Gulak überfallen. Experte Jibo Ibrahim ist sich sicher: "Boko Haram hat weiterhin Camps in der Region. Von denen aus greifen sie Dörfer an." Noch immer sind weite Teile der Region so unsicher, dass es für Journalisten lebensgefährlich ist, dorthin zu fahren um sich ein Bild der Lage zu machen. Noch immer sind hunderttausende Nigerianer auf der Flucht vor dem Terror. Noch immer fehlt jede Spur von über 200 Schülerinnen, die letztes Jahr in Chibok entführt wurden.

Im August - 500 Tage nach der Entführung der Chibok-Mädchen - fordern Demonstranten in der Hauptstadt Lagos deren Freilassung (Foto: REUTERS/Akintunde Akinleye)
Im August - 500 Tage nach der Entführung der Chibok-Mädchen - fordern Demonstranten in der Hauptstadt Lagos deren FreilassungBild: Reuters/A. Akinleye

Außerdem sollte man bei aller berechtigter Freude über die "Rückeroberungen" der Armee nicht vergessen: Dass Boko Haram größere Landesteile im Nordosten Nigerias unter Kontrolle bringen konnte, war nur eine kurze Episode ihres inzwischen über sechs Jahre andauernden Aufstands. Die weitaus wirkungsvollere und tödlichere Strategie der Terroristen ist und bleibt es, gezielte nächtliche Angriffe und Selbstmordanschläge zu verüben - und dann wieder unterzutauchen.

Wohin vertreibt man Terroristen?

Angesichts dieser Tatsachen relativiert auch Nigerias Informationsminister Lai Mohammed im DW-Interview die Ankündigung des Präsidenten, dass Boko Haram bis Ende des Jahres besiegt werden kann: "Die Deadline 31. Dezember heißt nicht, dass es überhaupt keine Angriffe oder Selbstmordanschläge mehr geben wird. So etwas verschwindet nicht über Nacht." Zu lange seien beim Kampf gegen die Terroristen geheimdienstliche Informationen und vor allem die Zusammenarbeit mit der Bevölkerung zu kurz gekommen, so der Informationsminister. "Wir müssen den gesamten Nordosten des Landes ent-radikalisieren. Da müssen auch die religiösen Führungspersönlichkeiten ihre Verantwortung übernehmen."

Ein Soldat in Kamerun. Auch hier ist Boko Haram aktiv (Foto: picture-alliance/dpa/T.Graham)
Ein Soldat in Kamerun. Auch hier ist Boko Haram aktivBild: picture-alliance/dpa/T.Graham

Statt von einer "Vernichtung" der Terrorgruppe spricht die Regierung kurz vor Jahresende lieber von "Vertreibung". Doch wohin? In den anderen Landesteilen Nigerias verdichten sich Hinweise, dass untergetauchte Kämpfer neue Selbstmordanschläge planen. Bereits jetzt klagt das Nachbarland Kamerun über vermehrte Angriffe von Boko Haram.

Inzwischen dürfte auch Präsident Buhari klar sein: Der Terror durch Boko Haram ist nicht so schnell zu bekämpfen wie die Slum-Unruhen von 1984. Und auch diese Aktion verlief nicht reibungslos: Augenzeugen berichteten damals von hunderten Opfern, unter ihnen auch viele unbeteiligte Slumbewohner. Und einige der Terroristen konnten trotz der militärischen Großoffensive fliehen - und sich neu formieren.