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Nigerias Kinder auf der Flucht vor Boko Haram

Martina Schwikowski, Adrian Kriesch18. September 2015

1,4 Millionen Kinder in Westafrika suchen Schutz vor der Terrorgruppe Boko Haram, sagt das Kinderhilfswerk UNICEF. Die Bedingungen in den Flüchtlingslagern sind katastrophal, die Kinder schwer traumatisiert.

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Ein Kind im Malkohi Flüchtlingscamp
Bild: DW/Jan-Philipp Scholz

Die Stadt Yola im Nordosten Nigerias ist in den vergangenen Jahren zu einem Zufluchtsort für zehntausende Menschen geworden. Trotz Anschlägen in der Vergangenheit gilt der Ort als relativ sicher. Bewohner aus den umliegenden Dörfern suchen hier Schutz und Sicherheit bei Familie, Freunden und in Flüchtlingscamps.

Regina Musa ist erst vor wenigen Monaten aus den USA nach Nigeria zurückgekehrt, um an der Amerikanischen Universität in Yola Psychologie zu unterrichten. Jetzt versucht sie, in den Flüchtlingscamps den vielen traumatisierten Frauen und Kindern zu helfen. "Je mehr sie über das sprechen, was sie erlebt haben und je mehr sie wieder einen Alltag finden, desto größer sind auch die Fortschritte bei der Therapie", sagt Musa im Gespräch mit der DW. "Aber viele ziehen sich auch einfach zurück und wollen in Ruhe gelassen werden - über die mache ich mir die größten Sorgen."

Eine von wenigen Psychologen im Nordosten Nigerias: Regina Musa
Eine von wenigen Psychologen im Nordosten Nigerias: Regina MusaBild: DW/Jan-Philipp Scholz

Überforderte Notfallagentur

Eine Sozialarbeiterin im Flüchtlingscamp Malkohi außerhalb von Yola beklagt sich, dass viele Kinder unzureichend behandelt würden - sowohl medizinisch als auch psychologisch. "Ich verstehe einfach nicht, warum die nationale Notfallagentur nicht mehr macht", sagt die Frau, die ihren Namen nicht nennen möchte. Nigerias Notfallagentur NEMA hat die Aufgabe, sich um die Flüchtlinge zu kümmern, wirkt in der Region jedoch seit Monaten völlig überfordert.

"Die Situation wird immer schlimmer", sagt Olusoji Adeniyi, Notfall-Koordinator beim Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF in der Hauptstadt Abuja. "In den vergangenen Monaten gab es so viele Vertriebene wie noch nie", so Adeniyi. Laut UNICEF sind derzeit 1,4 Millionen Kinder in Nigeria auf der Flucht, vor allem im umkämpften Norden. Die Militärtruppen der Regierung versuchen, die von den Rebellen kontrollierten Gebiete zurückzuerobern. Dadurch werden erneut Hundertausende in die Flucht getrieben.

Terror-Opfer auf dem Weg ins Flüchtlingscamp Malkohi
Befreit von Boko Haram: Terror-Opfer auf dem Weg ins Flüchtlingscamp MalkohiBild: picture alliance/dpa

Traumatisierte Kinder

"Die Mehrheit der Kinder ist traumatisiert", sagt Adeniyi. "Einige haben gesehen, wie ihre Eltern umgebracht wurden, andere sind tagelang gerannt oder haben sich im Busch versteckt, bis sie sich sicher genug fühlten, in die angrenzenden Gemeinden oder in Notlager zu flüchten." Sie hätten keine Möglichkeit, sich von ihren traumatischen Erlebnissen zu befreien, steckten voller Angst und bräuchten nicht nur Kleidung und Nahrung, sondern vor allem psychologische Unterstützung, so Adeniyi.

UNICEF hat nach eigenen Angaben bisher 72.000 Kinder psychologisch betreut. Mehr als 315.000 wurden gegen Masern geimpft. Aber viele Kinder leiden an Unterernährung. Auch die Wasserversorgung ist problematisch in vielen Regionen, in denen UNICEF Hilfe leistet.

Bring Back Our Girls-Proteste in Lagos
Proteste in Lagos: Hunderte verschleppte Kinder werden noch immer vermisstBild: Reuters/A. Akinleye

"Mangelnde Bildung in ganz Nordnigeria"

Helfer Adeniyi hat keine Hoffnung, dass die Kinder und Jugendlichen bald in ihre Dörfer und in ihren Alltag zurückkehren können. Auch Schulen sind bei den Kämpfen zerstört und verbrannt worden. Außerdem verschleppt und rekrutiert Boko Haram immer wieder Kinder, viele werden an die Waffen gezwungen. Diese jungen Menschen müsse man zurückgewinnen, sagt Schriftsteller Helon Habila im Gespräch mit der DW. Er kommt selbst aus dem Nordosten Nigerias. "Der wahre Kampf ist der um die Köpfe und Herzen der jungen Soldaten von Boko Haram", so Habila, der das Problem vor allem in der mangelnden Bildung sieht. "Junge Leute in Nordnigeria sitzen zu Hause rum, arbeitslos, ohne Bildung, ohne Perspektive. Boko Haram gibt ihnen Arbeit und Geld." Seit einigen Monaten häufen sich zudem Meldungen über Anschläge, bei denen junge Mädchen als menschliche Bomben zu Selbstmordattentaten gezwungen wurden.

Trotz der riesigen Herausforderung: Regina Musa in Yola will die Hoffnung nicht aufgeben. "Vor allem die Frauen, die von Boko Haram verschleppt wurden, haben unglaubliche Stärke gezeigt", sagt die Psychologin. Viele hätten sich während dieser Zeit in Gefangenschaft auch um Kinder gekümmert, die ihre Eltern verloren haben - und ihnen so das Leben gerettet.

Mitarbeit: Jan-Philipp Scholz