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"Geiseln als Attentäter"

Abu-Bakarr Jalloh/Hilke Fischer25. März 2015

Kurz vor den Wahlen in Nigeria soll Boko Haram wieder hunderte Menschen verschleppt haben. Die Details sind noch unklar. Was die Extremisten mit solchen Massenentführungen bezwecken, erklärt Analyst Ryan Cummings.

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Boko Haram Kämpfer (Foto: AP)
Bild: picture alliance/AP Photo

DW: Die Terrorgruppe Boko Haram soll in Damasak im Nordosten Nigerias wieder hunderte Menschen entführt haben. Wie viele, wie und wann genau - dazu gibt es sehr widersprüchliche Informationen. Die Stadt wurde ja erst vergangene Woche von Soldaten aus Niger und Tschad zurückerobert. Was wissen Sie über die angebliche Massenentführung?

Ryan Cummings: Boko Haram hatte die Stadt ja lange unter Kontrolle, aber auch mit einem Gegenangriff der tschadischen und nigrischen Truppen gerechnet. Deshalb sind die Kämpfer aus Damasak geflohen - zusammen mit bis zu 400 Geiseln. Diese Zahl beruht auf Augenzeugenberichten und lässt sich nur schwer überprüfen. Ausländische Journalisten, die in der Stadt sind, sagen, dass nur noch rund 50 Personen zurückgeblieben sind, die meisten von ihnen ältere Menschen. Außerdem sollen die tschadischen und nigrischen Soldaten bei der Einnahme von Damasak rund 70 Leichen gefunden haben.

Aus der nigerianischen Regierung hat sich bislang niemand konkret zu den Meldungen geäußert. Mike Omeri, der Vorsitzende des staatlichen Anti-Terrorismus-Informationszentrums in Abuja, hat jetzt zwar bestätigt, dass es eine Geiselnahme in der Stadt gegeben hat - konnte allerdings keine Details nennen. Wissen die Behörden tatsächlich nicht mehr oder halten sie die Informationen bewusst zurück?

Es ist sehr schwer, herauszufinden, was tatsächlich in Damasak passiert ist. Das große Problem im Nordosten Nigerias ist, dass es dort kaum Journalisten gibt. Wir müssen uns oft auf Berichte von Zivilisten aus der Region verlassen. Die nigerianische Armee gibt vielleicht auch deshalb nur zögerlich Informationen heraus, weil es im Falle der Chibok-Entführungen vor rund einem Jahr zu widersprüchlichen Aussagen gekommen ist. Damals sind ja rund 300 Schülerinnen von Boko Haram verschleppt worden. So eine Massenentführung sorgt national und international immer für große Aufregung. An diesem Samstag stehen in Nigeria Wahlen an und die will die regierende Partei durch solche Meldungen wahrscheinlich nicht beeinträchtigt sehen.

Ryan Cummings (Foto: red.24)
Sicherheitsexperte Ryan CummingsBild: privat
Nigerias Terror geht weiter (Foto: K. Gänsler/DW)
Die Schülerinnen aus Chibok werden immer noch vermisstBild: DW/K. Gänsler

Auch darüber, wann diese Entführung genau passiert sein soll, gibt es ja widersprüchliche Informationen…

Bislang war es immer so, dass solche Vorfälle nach spätestens drei Tagen öffentlich wurden. In diesem Fall nimmt man an, dass die eigentliche Entführung vor etwa zehn Tagen stattgefunden hat. Im Gegensatz zu anderen Orten, an denen es zu massiven Gewalttaten gekommen ist, war Damasak längere Zeit unter der Kontrolle von Boko Haram. Anderswo hat die Sekte Ortschaften überfallen und ist anschließend mit ihren Geiseln geflohen oder hat die lokale Bevölkerung getötet. Die, die zurückblieben, haben den Vorfall danach gemeldet. In Damasak scheinen sich die meisten Überlebenden versteckt zu haben, aus Angst, dass die noch anwesenden Boko-Haram-Kämpfer ihnen etwas antun könnten. Das könnte begründen, warum wir erst so spät von den Entführungen erfahren haben.

Welches Ziel verfolgt Boko Haram mit den Geiselnahmen?

Erstens untergräbt es den Anti-Terror-Kampf der nigerianischen Regierung und der ausländischen Truppen. Denn solche Ereignisse suggerieren, dass die Soldaten die Sicherheit der Zivilisten nicht garantieren können. Außerdem können die Kämpfer ihre Geiseln als Sklaven nutzen: als Selbstmordattentäter, als Kämpfer, als Köche. Darüber hinaus senden die Geiselnahmen eine sehr starke Botschaft an die Zivillisten in anderen Regionen, in denen die Sekte derzeit aktiv ist und wo momentan Militärmissionen laufen. Denn sie fördern die Wahrnehmung, dass jede Form von Zusammenarbeit mit den Streitkräften und der nigerianischen Regierung dazu führen kann, dass man getötet oder verschleppt wird.

Die Nachbarstaaten Nigerias haben mit ihrer vor wenigen Wochen gestarteten Offensive bereits große Teile der von Boko Haram kontrollierten Gebiete befreien können. Für wie nachhaltig halten Sie die Militäraktion gegen die Terrorgruppe?

Die Strategie von Boko Haram, Gebiete zu besetzen, ist noch sehr jung. Im Juni 2014 hat die Gruppe zum ersten Mal eine Stadt eingenommen. Bis dahin hat Boko Haram eine reine Guerilla-Strategie verfolgt. Sie verübten Bombenanschläge in Städten und griffen Zivilisten und Polizisten aus Hinterhalten an. Dass Boko Haram jetzt aus Nordost-Nigeria vertrieben wird, bedeutet nicht, dass die Sekte dann nicht mehr die Mittel hat, Angriffe anderswo zu verüben. Wir sehen jetzt schon eine starke Zunahme von Selbstmordattentaten, die sich sowohl gegen Zivilisten als auch gegen den Staat richten.

Wir hören viel von Städten, die zurückerobert wurden. Aber wir hören wenig über Boko-Haram-Kämpfer, die gefangen genommen werden. Das lässt vermuten, dass es sich um taktische Rückzugsmanöver der Terroristen handelt. Die Streitkräfte stoßen deshalb bei der Rückeroberung von Städten auf geringen Widerstand. Aber Gebiete zu erobern und Gebiete zu sichern - das sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Dass die Gebiete befreit worden sind, bedeutet nicht, dass Boko Haram sie nicht erneut angreifen kann.

Ryan Cummings arbeitet für den südafrikanischen Sicherheitsberater red.24 und ist Teil des Nigeria Security Networks.

Das Interview führte Abu-Bakarr Jalloh.