Nicht nur Straftäter werden abgeschoben
24. Oktober 2017Nur wenige Tage nach verheerenden Sprengstoffanschlägen in Ghor und der Hauptstadt Kabul bleibt die Bundesregierung bei ihrem Kurs, weiterhin bestimmte abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan abzuschieben.
Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur startete am Dienstagabend vom Flughafen Leipzig/Halle aus der nächste Flug in Richtung Kabul. An Bord der Maschine befindet sich eine noch unbekannte Zahl von Afghanen aus verschiedenen Bundesländern. Den Tag über hatten Abschiebungsgegner am Flughafen gegen die Zwangsmaßnahme protestiert. Das Bundesinnenministerium in Berlin bestätigte den Flug zunächst nicht. Das ist so üblich. Regelmäßig geben die Bundesbehörden erst Einzelheiten zu solchen Abschiebungen bekannt, wenn die Maschine am Zielort gelandet ist.
An Bord der Maschine dürften nach Schätzungen des bayerischen Flüchtlingsrats mehr als 20 Straftäter, Gefährder und sogenannte hartnäckige Identitätsverweigerer sitzen. Die Zahl könnte aber auch höher liegen, denn es ist nicht bekannt, wie viele Menschen schon seit längerem in Abschiebehaft sitzen und auf ihre Rückführung warten.
Noch im Juli hatte die Bundesregierung nach einem Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul eine Neubewertung der Sicherheitslage in Afghanistan beim Auswärtigen Amt angefordert. Bis heute beruft sich das Innenministerium auf einen Zwischenbericht des Auswärtigen Amtes von Ende Juli, das die neue Sicherheitslage der vergangenen Monate noch nicht einschließt. Dieser Bericht stellt klar, "dass es unter Berücksichtigung der Umstände jedes Einzelfalls verantwortbar und geboten ist, Rückführungen [nach Afghanistan] durchzuführen", so die Stellungnahme des Bundesinnenministeriums, die der Deutschen Welle vorliegt. "Dabei handelt es sich um Ausreisepflichtige, also Personen, die nach Abschluss eines rechtsstaatlichen Verfahrens unter Beachtung aller Aspekte des Einzelfalls unter keinem Gesichtspunkt ein Aufenthaltsrecht zusteht." Doch sind damit nur Straftäter, Menschen, von denen eine Terrorgefahr ausgeht oder Identitätsverweigerer gemeint?
Stephan Dünnwald vom bayrischen Flüchtlingsrat hegt daran große Zweifel. Der bayrische Flüchtlingsrat geht davon aus, dass bei dem Flug Richtung Kabul zehn abgelehnte Asylbewerber aus Bayern dabei sein könnten. Bei einigen liefen Eilanträge, die vom Bundesgerichtshof noch nicht beantwortet worden seien, bestätigt Dünnwald. Denn klar ist: Für mindestens einen Betroffenen treffen die Kategorien Straftäter, Gefährder oder Identitätsverweigerer nicht zu. So werden Asylbewerber genannt, die bei der Feststellung ihrer Identität nicht mit den deutschen Behörden kooperieren. Die Anwältin des Afghanen, Myrsini Laaser, kritisiert gegenüber der DW, dass er in Abschiebehaft genommen worden sei und ausgewiesen werden soll, obwohl kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen ihn laufe. Dazu verfüge er über vollständige und fehlerfreie Ausweisdokumente.
Ein Exempel statuieren
Eins macht beim Fall des Mandanten von Laaser stutzig: Zwar besitzt der Mann einen afghanischen Pass, jedoch gehört er zur Minderheit der Hasara und ist im Iran aufgewachsen. Vor einigen Jahren floh er nach Deutschland. In Afghanistan hat er noch nie gelebt. Bei diesem Fall setze die bayrische Landesregierung auf Abschreckung, sagt Dünnwald im Interview mit der DW: "Wir werfen der bayerischen Landesregierung vor, dass die Kategorie Identitätsverweigerer weit auslegt wird, obwohl in vielen Fällen die Identität als geklärt gilt", kritisiert Dünnwald. Diese Kategorie sei ein Freibrief, um ausreisepflichtige Afghanen abschieben zu können. Ebenso gälten bei Straftätern unterschiedliche Standards. Sowohl schwere Straftaten als auch kleinere und mehrere Jahre zurückliegende Bagatelldelikte seien mitunter Abschiebegründe.
Die Praktiken Bayerns seien menschenrechtlich sehr bedenklich. "Afghanistan ist ein Bürgerkriegsland, und in Bürgerkriegsländer darf man nicht abschieben", so Dünnwald. Selbst wenn Afghanen aus Regionen stammten, die als sicher gälten, verbiete sich eine Rückführung dorthin wegen der Sicherheitslage im Land, sagt Dünnwald. Viele Anschläge würden an Überlandstraßen verübt, die deswegen selbst von internationalen Organisationen gemieden würden, erklärt der Sprecher des bayerischen Flüchtlingsrats. Auch sei es unmöglich, den Lebensunterhalt in dem Krisenland menschenwürdig zu sichern. Das bayerische Innenministerium war bisher zu keiner Stellungnahme bereit.
Einsatz für die innere Sicherheit?
Bernd Mesovic von der Organisation Pro Asyl wertet das Vorgehen der bayerischen Landesregierung in Zusammenarbeit mit den anderen Landesregierungen als Strategie. Über diese Lücke werde nach einem Einstieg gesucht, um eine größere Zahl von Abschiebungen nach Afghanistan zu erreichen. Das Einzelschicksal derer, die nicht in die Kategorie der Straftäter passten, stehe völlig im Schatten der medienwirksamen Straftäter, meint Mesovic.
Er kritisiert zudem, wenn ein Menschenleben in Afghanistan gefährdet sei, dürfe die Regierung auch keine Straftäter zurückschicken. Durch die Abschiebepraxis sei außerdem nicht nur das Wohl der abgelehnten Asylbewerber bedroht. Der Abschiebeflug selbst könne eine Gefahr sein, meint Mesovic, da ein hohes Sicherheitsrisiko für die Besatzung, begleitende Polizisten und die abgelehnten Asylbewerber bestehe.
Warnung für Airlines
Seit Jahren veröffentlichen das Bundesverkehrsministerium und die Deutsche Flugsicherung eine sogenannte NOTAM (Notice for airmen), einen Sicherheitshinweis für Fluggesellschaften. Demnach warnen Sicherheitsbehörden noch bis zum 15. November davor, den Flughafen Kabul anzusteuern. Auf Anfrage der DW bestätigte das Bundesverkehrsministerium, die NOTAM sei auf nationaler Ebene auf Grundlage der Bewertungen deutscher Sicherheitsbehörden verfasst worden.
Für Bernd Mesovic von Pro Asyl ist klar, mit den fortgesetzten Abschiebungen wolle die Bundesregierung eine Warnung an die Afghanen senden, die noch auf der Flucht seien und Europa vielleicht noch gar nicht erreicht hätten. Erst im September waren nach einer langen Pause mehrere Afghanen in ihre Heimat zurückgeführt worden. Insgesamt waren in diesem Jahr nach Angaben des Bundesinnenministeriums bis September insgesamt 80 Afghanen betroffen. Möglich macht das ein Rücknahmeabkommen zwischen der afghanischen Regierung und der Bundesrepublik. Demnach können monatlich bis zu 50 Afghanen in das Krisenland zurückgeschickt werden.