Der Ruf nach Unabhängigkeit
10. Oktober 2017In der östlichen Hälfte Europas hat der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens viele neue Staaten entstehen lassen. In Westeuropa dagegen schienen die alten Nationalstaaten lange Zeit festgefügt. Doch an diesem Fundament wird gerüttelt: In einer ganzen Reihe von westeuropäischen Ländern gibt es Unabhängigkeitsbestrebungen, zum Teil militante. Die Chancen auf Verwirklichung sind unterschiedlich.
Katalonien
Nirgendwo in Westeuropa ist der Ruf nach Unabhängigkeit derzeit so laut wie in Katalonien. Während noch zur Zeit der Franco-Diktatur das Katalanische unterdrückt wurde, hat die Region längst ein hohes Maß an kultureller und politischer Autonomie erreicht - unter anderem mit einem eigenen Regionalparlament. Doch vielen der 7,5 Millionen Katalanen reicht das nicht. Sie wollen einen eigenen Staat, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Sie sagen, das reiche Katalonien werde vom spanischen Gesamtstaat ausgesaugt. Etwa 20 Prozent des spanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) werden in der östlichen Region um Barcelona erwirtschaftet. Am 1. Oktober ließ die Regionalregierung eine Volksabstimmung abhalten, die von der konservativen spanischen Regierung von Mariano Rajoy als verfassungswidrig abgelehnt wurde. Juristisch und mit polizeilicher Gewalt der Guardia Civil wurde versucht, die Abstimmung zu verhindern. Zwar nicht legal und nur mit einer Beteiligung von 42 Prozent - doch 90 Prozent der abgegebenen Stimmen waren für die Unabhängigkeit. Deshalb hat Puigdemont angekündigt, bald eine eigene katalanische Republik auszurufen.
Baskenland
Viele Katalanen blicken auch auf die Region Baskenland. In ganz Spanien kassiert die Madrider Zentralregierung Steuern und verteilt sie wiederum auf die einzelnen Regionen - nur nicht im Baskenland und in der dazugehörigen Provinz Navarra mit ihrer Hauptstadt Pamplona. Das Baskenland verwaltet die Steuereinnahmen eigenständig und zahlt nur eine geringe Summe an Madrid. Das spanische Baskenland ist aber wirtschaftlich schwächer als Katalonien. Zwar wurden auch der baskische Nationalismus und die baskische Sprache unter der Franco-Diktatur unterdrückt, eine kleine Minderheit der heutigen baskischen Nationalisten ist dafür wesentlich militanter. Die baskische Untergrundorganisation ETA hat in rund 50 Jahren mehr als 800 Menschen umgebracht, um das Ziel einer Loslösung von Madrid zu erreichen. 2011 schwor die ETA der Gewalt ab. Doch weder Anschläge noch politische Verhandlungen haben das Baskenland einer Volksabstimmung, geschweige denn der Unabhängigkeit näher gebracht.
Schottland
Gut 300 Jahre besteht die Union zwischen Schottland und dem Rest des Vereinigten Königreichs. Doch die Schotten streben seit langem nach größerer Autonomie. Ein eigenes Parlament haben sie schon. Die Schottische Nationalpartei fordert aber die volle Eigenständigkeit. 2014 ließ London ein Unabhängigkeitsreferendum zu. Zwar stimmte die Mehrheit der Schotten gegen eine Abspaltung, doch 2016 wurde der Unabhängigkeitsgeist durch das EU-Referendum in Großbritannien und den anstehenden Brexit neu entfacht. Im Anschluss an die Entscheidung der britischen Wähler für den Austritt aus der Europäischen Union wandte sich Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon an die Nationalisten: Da die schottischen Wähler mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt hätten, sei es inakzeptabel, dass Schottland automatisch mit dem Vereinten Königreich aus der EU austrete. Wenn mehr Details über den Brexit bekannt sind, will sie im Herbst 2018 erneut über die Unabhängigkeit abstimmen lassen. Doch die Luft ist ein wenig raus: Umfragen zeigen, dass ein neues Unabhängigkeitsreferendum ähnlich ausgehen würde wie das von 2014.
Flandern
Bei den jüngsten belgischen Parlamentswahlen im Jahr 2014 wurde die Neue Flämische Allianz unter Bart De Wever stärkste Kraft in Flandern. De Wever ist überzeugt, dass der belgische Gesamtstaat "verdampfen" wird und Flandern ohne die Wallonen wirtschaftlich besser dran ist. Ein eigenständiges Flandern will er auf dem Verhandlungsweg erreichen. Der flämische Separatismus ist ein Sonderfall: Belgien besteht ohnehin nur aus dem niederländischsprachigen Flandern, dem französischsprachigen Wallonien (einschließlich der deutschsprachigen Gemeinschaft) und dem offiziell zweisprachigen Brüssel. Würde sich Flandern abspalten, ginge Belgien deutlich mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung und Wirtschaftskraft verloren. Von Belgien bliebe also wenig übrig. Großer Streitpunkt wäre in dem Fall der Status von Brüssel, das ja auch Sitz von EU und NATO ist. Was dann mit Wallonien passieren würde, ist ebenfalls unklar. Ideen einer Angliederung an Frankreich, Luxemburg oder sogar Deutschland machten vorübergehend die Runde. Doch die Debatte ist abgeflaut, und bisher haben sich die Belgier noch immer wieder zusammengerauft.
"Padanien"
Die norditalienische Sezessionsbewegung ist rein ökonomisch motiviert. Der Norden mit den Regionen Lombardei, Aosta, Piemont, Ligurien, Venetien und Emilia-Romagna erwirtschaftet mit seinen Industriebetrieben und Banken einen Großteil des italienischen Sozialprodukts. Viele Norditaliener glauben aber, dass die Mitte und der Süden des Landes das hart verdiente Geld des Nordens verplempern. Die Partei Lega Nord wollte in den 1990er Jahren noch eine vollständige Abspaltung "Padaniens", abgeleitet von dem italienischen Namen "pianura padana" für die Poebene. Heute ist die Lega Nord gemäßigter. Jetzt geht es ihr nur noch darum, dass der Norden den allergrößten Teil des erwirtschafteten Geldes selbst behalten und verwalten kann, statt es erst mal nach Rom zu überweisen.
Südtirol
In Südtirol kommen wirtschaftspolitische und geschichtlich-kulturelle Faktoren zusammen. Südtirol gehörte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zu Österreich-Ungarn, wurde dann Italien zugesprochen. Nach einer Italianisierungsphase in der Zeit Mussolinis erhielt Südtirol nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr politische und sprachliche Autonomie. Sogar einen großen Teil ihrer Staatseinnahmen darf die wohlhabende Region behalten. Die Südtiroler schienen lange Zeit befriedigt. Die Staatsschuldenkrise hat dann den Separatismus vorübergehend neu angefacht. Italien ist das nach Griechenland am höchsten verschuldete Land der Eurozone, die Wirtschaft kommt nicht auf die Beine. Viele Südtiroler, denen es selbst wirtschaft gut geht, wollen mit den Problemen Gesamtitaliens nichts zu tun haben, und viele von ihnen fordern daher: "Los von Rom".
Korsika
Der französische Staat hat lange versucht, die korsische Sprache ganz aus dem öffentlichen Leben und den Schulen der Insel zu verdrängen. Autonomiebestrebungen wurden bekämpft. Militante Gruppen, vor allem die FLNC, haben viele Jahre versucht, Frankreich mit Gewalt loszuwerden, indem sie Anschläge gegen Vertreter oder Symbole des französischen Staates und auf Ferienhäuser von Festlandfranzosen verübten. 2014 kündigte die FLNC an, auf ihren Kampf im Untergrund zu verzichten. Doch das Konfliktpotenzial bleibt: Vorsichtige Autonomievorschläge der sozialistischen französischen Regierung unter Lionel Jospin im Jahr 2000 brachten die konservative Opposition auf die Barrikaden. Sie glaubte, dann würden auch andere Regionen wie die Bretagne oder das Elsass mehr Selbstständigkeit fordern. Traditionell nimmt man in Paris auch wenig Rücksicht auf Regionalsprachen, da man die Einheit des Landes in Gefahr sieht.
Bayern
So richtig ernsthaft denken wohl die allerwenigsten Bayern daran, einen eigenen Staat zu gründen. Immerhin trägt Bayern schon heute den Begriff Freistaat im offiziellen Namen. Dabei könnte Bayern allein wohl durchaus überleben. Es ist das flächenmäßig größte deutsche Bundesland, hat mit fast 13 Millionen mehr Einwohner als Schweden oder Portugal und mit die höchste Wirtschaftsleistung der deutschen Bundesländer. Wenn es den Wunsch nach noch mehr bayerischer Selbstbestimmung gibt, dann ergibt er sich vor allem aus dem Länderfinanzausgleich, der die Wohlstandsunterschiede zwischen armen und reichen Ländern teilweise ausgleicht. Bayern würde gern weniger in den großen Topf zahlen. Doch es gibt sie auch hier, die waschechten Sezessionisten: Der CSU-Politiker Wilfried Scharnagl plädiert in seinem 2012 erschienen Buch "Bayern kann es auch allein" für einen Austritt aus dem deutschen Staatsverband. Bisher ist aber keine größere Bewegung daraus geworden.