Das New York Philharmonic Orchestra wird 175
24. Februar 2017Fast 2.000 Tonaufnahmen - und bis 1999 13.000 Aufführungen: Das sind Zahlen, an die kein anderes Orchester der Welt herankommt. Eine dagegen weniger positive Statistik: Seit Jahren gehen die Zahlen der Philharmonie-Abonnements zurück. Ihr Etatdefizit betrug 2016 2,1 Millionen US-Dollar (rund 1,98 Millionen Euro). Zu allem Überfluss wird das Orchester ab 2019 auch heimatlos: Der David Geffen- (ehemals Avery Fisher-) Saal im New Yorker Lincoln Center (Bild oben) wird renoviert. Und just in dieser Zeit muss sich ein neuer Chefdirigent behaupten. Auch die Stelle des Geschäftsleiters muss neu besetzt werden.
Orchester: "Minenfeld für Dirigenten"
Das New York Philharmonic Orchestra hat gravierende Zäsuren erlebt, aber auch Musikgeschichte geschaffen. Angefangen hat diese Geschichte am 7. Dezember 1842, als 63 Instrumentalisten der "Philharmonic Society of New York" für rund 600 Besucher in den "Apollo Rooms" auf dem Broadway spielten. Ureli Corelli Hill, der Gründer des Ensembles, dirigierte die Musiker bei Ludwig van Beethovens Fünfter Sinfonie. Ein Musikliebhaber, der dabei war, beschrieb die Aufführung als "vollkommen gedrillt", ein Konzert fast in militärischer Perfektion. Und das, obwohl die Musiker aus verschiedenen Ländern und Musiziertraditionen kamen.
Zu den Chefdirigenten des Orchesters gehören renommierte Namen wie Gustav Mahler, Arturo Toscanini, Leonard Bernstein, Pierre Boulez und Zubin Mehta. Drei von ihnen - Mahler, Toscanini und Bernstein - unterhielten auch langjährige Verbindungen zu der großen Antipode der New York Philharmonic: den Wiener Philharmonikern.
Die Dirigenten der New Yorker Philharmoniker standen vor einem ungewöhnlich selbstbewussten, oft reizbaren Musikerkollektiv, das als "Minenfeld für Dirigenten" galt. Unter dem selbstbewussten Maestro Toscanini mussten nach seiner Amtseinführung im Jahr 1928 sogar sämtliche Streicher erneut Aufnahmeprüfungen ablegen.
Man hat diesen Instrumentalisten im Laufe der Jahre vieles vorgeworfen, aber nie, dass sie leicht einzuschüchtern seien. Kritiker haben immer wieder die "blechernen Übertreibungen" des Orchesters erwähnt - eine Qualität, die sogar ein Kurt Masur nicht völlig ausradieren konnte. Bevor der deutsche Wiedervereinigungsheld Zucht und Ordnung in den Musikerreihen einführen konnte, war er im Gespräch als Kandidat für das Präsidentenamt in Deutschland. "Bestimmt hegen Sie keine Illusionen darüber, welchen Job schwieriger sein wird", soll sein Dirigentenkollege Simon Rattle zu ihm gesagt haben. Schwieriger - damit meinte Rattle nicht die Aufgaben des Präsidenten.
Unauslöschliche Momente: Konzert in Gedenken an den 11. September
Kurt Masur folgte auf Zubin Mehta, den am längsten dienenden Musikdirektor der New Yorker Philharmoniker (1978-1991). Mit seinen kapellmeisterlichen Qualitäten und deutschen Musiziertugenden diente Masur als Musikdirektor von 1991 bis 2002, erneuerte das Orchester rundum und verbesserte den Klang deutlich. Ein von den New Yorkern unvergessener Moment war Masurs Dirigat beim "Deutschen Requiem" von Johannes Brahms in Andenken an die Opfer des Terroranschlags vom 11. September 2001.
Bei verschiedenen Traumata der US-Geschichte trafen die Musiker das Gefühl der Zeit: von der Großen Depression der 30er-Jahre bis hin zur Aids-Epidemie der 80er und Hurricane Katrina im Jahr 2005. Trost spendeten sie nach den Attentaten auf zwei Präsidenten: Abraham Lincoln starb im Jahr 1865 und John F. Kennedy 1963.
Beim letzteren Gedenkkonzert dirigierte ein Mann, der im Weißen Haus ein gern gesehener Gast war: Leonard Bernstein. Ohne Zweifel war "Lenny" der beliebteste unter den Chefdirigenten der New Yorker Philharmoniker. Als er am 14. November 1943 für den erkrankten Bruno Walter kurzfristig einsprang, dirigierte er ein Konzert, das gleich als legendär in die Geschichte einging.
Kein Dirigent wurde vom Publikum mehr geliebt - auch vom Fernsehpublikum. Mit Gusto moderierte Bernstein die Übertragungen der "Young People's Concerts". Begründet hatte er sie allerdings nicht; die Tradition ging bis ins Jahr 1924 zurück.
Lenny war es auch, der das Orchester bei einem unvergesslichen Moment in Deutschland leitete: einer Aufführung von Beethovens Neunter Sinfonie am Berliner Gendarmenmarkt zu Weihnachten 1989 - einen Monat nach dem Mauerfall. Im Schlusschor "An die Freude" ließ der Dirigent das Wort "Freude" durch "Freiheit" austauschen. Die Puristen waren beleidigt, das Volk tief bewegt.
Besondere Herausforderungen für Jaap van Zweden
Bernstein, Chefdirigent von 1958 bis 1969, galt als Visionär - wie sein Nachfolger Pierre Boulez - und auch der gegenwärtige Orchesterleiter Alan Gilbert, der seine Konzerte mit reichlich moderner Musik garniert und "New York Philharmonic Biennial" gründete, ein Festival zeitgenössischer Musik.
Gilbert wird 2018 von Jaap van Zweden abgelöst. Als 26. Musikdirektor der New Yorker Philharmoniker fällt dem Niederländer eine besondere Herausforderung zu: Er muss Mitglieder motivieren und das Publikum mobilisieren, während die Heimstätte des Orchesters geschlossen bleibt.
Davor werden die New Yorker wieder im Ausland in Erscheinung treten: Am 23. März beginnt eine neue Europatournee, die an eine reiche Tradition anknüpft. Ein Meilenstein der Geschichte war die Tournee im Jahr 1958: Mitten im Kalten Krieg spielte das Orchester umjubelte Auftritte in der Sowjetunion. Eine noch größere Sensation war der warme Empfang, den das Publikum im nordkoreanischen Pjöngjang den Philharmonikern 2008 bereitete. Insgesamt verzeichnen sie Auftritte in 432 Städten, in 62 Ländern auf fünf Kontinenten.
Ein Doppel-Jubiläum
Das New York Philharmonic Orchestra hat jeden Auftritt seit dem denkwürdigen ersten Konzert am 7. Dezember 1842 penibel dokumentiert. Auf 170.000 Seiten können Interessierte seine Geschichte online nachlesen.
Auch dort nachzuschlagen: Die erste Tonaufnahme des New York Philharmonic Orchestra war am 20. Januar 1917. Um diesen runden Jahrestag zu feiern, erscheint eine 65-teilige CD-Reihe auf dem Label "Sony Classical". Später im Jahr beginnt das Orchester mit einer Retrospektive der Musik von Leonard Bernstein - bereits im Vorfeld seines 100. Geburtstags am 25. August 2018.
Eine Ausstellung gibt es zum 175. Orchesterjubiläum ebenfalls: Sie wurde am 23. Februar im "Austrian Cultural Forum" in New York eröffnet. Warum dort? Es handelt sich um eine gemeinsame Ausstellung in Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern. Denn auch dieses große Orchester wird in diesem Jahr 175 Jahre alt.