Droht dem Nordirland-Abkommen das Aus?
3. Februar 2021Der Satz des Anstoßes ist offenbar schon wieder entfernt worden, aber im Netz findet man noch Fotos von dem Graffiti: "Alle Mitarbeiter des Grenzpostens sind Zielscheiben", hatte jemand mit weißer Farbe an Mauern in der Hafenstadt Larne gepinselt. Zuvor waren ähnliche Graffitis nahe dem Hafen von Belfast aufgetaucht, dem anderen wichtigen Fährterminal in Nordirland.
Vielleicht würde man anderswo über solche Sätze hinwegsehen - nicht so in Nordirland. Die zum Vereinigten Königreich gehörende Region hat Jahrzehnte voller Terror und Gewalt hinter sich, in der Bevölkerung stehen sich Dublin-treue Republikaner und London-treue Unionisten bis heute teils unversöhnlich gegenüber. Am Dienstagmorgen wurden daher die EU-Grenzschützer, die dort seit einem Monat von Großbritannien ankommende Waren kontrollieren, aus Sicherheitsbedenken von der Arbeit freigestellt.
Der Unmut wächst
Über die gesamte Verhandlungsdauer zum britischen EU-Austritt war die Nordirland-Frage eines der Hauptprobleme: Denn auf der irischen Insel würde durch den Brexit eine EU-Außengrenze entstehen. Im Karfreitagsabkommen, mit dem der Nordirlandkonflikt 1998 beigelegt wurde, hatte London sich verpflichtet, diese Grenze zur Republik Irland offen und durchlässig zu halten. Da die Brexit-Premierminister Theresa May und Boris Johnson jedoch stets den Austritt auch aus dem europäischen Binnenmarkt und der Zollunion anstrebten, musste irgendwo eine Zollgrenze zwischen Vereinigtem Königreich und EU entstehen.
"Die einzige Position, auf die sich beide Parteien einigen konnten, und zwar erst Ende 2020, war, dass es Kontrollen in den nordirischen Häfen geben würde - für Waren, die von Großbritannien nach Nordirland eingeführt wurden", sagt Tom Ferris, Experte für Logistik und den Brexit beim irischen Institut für Internationale und Europäische Angelegenheiten (IIEA). Die trotz Freihandelsabkommen notwendige Zollgrenze war de facto in die Irische See verlegt worden, sehr zum Unmut der nordirischen Unionisten.
Auch die unionistische Chefin der Regionalregierung, Arlene Foster, steht unter Druck und wollte jüngst bei Johnson einen Austritt aus dem mit Brüssel vereinbarten Nordirland-Protokoll erwirken. Für den zuständigen EU-Kommissionsvizepräsidenten Maroš Šefčovič ist das Protokoll jedoch als "Eckpunkt" des EU-Austrittsabkommens sakrosankt.
An diesem Mittwoch wollten Šefčovič, Foster und ihre republikanische Stellvertreterin Michelle O'Neill sowie der britische Kabinettsminister Michael Gove in einer Videokonferenz versuchen, die Wogen zu glätten.
Nach dem Brexit ist vor dem Streit
In den ersten fünf Wochen nach Ende der Brexit-Übergangsphase hat ein Streit über Lieferkontingente des Corona-Impfstoffs von AstraZeneca das Verhältnis zwischen London und Brüssel weiter eingetrübt: Die EU-Kommissioin wollte Kontrolle über die Ein- und Ausfuhren des Vakzins gewinnen. Dabei berief sie sich Ende Januar auf Artikel 16 des Nordirland-Protokolls, der einseitige Maßnahmen eigentlich erlaubt - aber nur als letztes Mittel, "falls die Anwendung des Protokolls zu dauerhaften ernsthaften wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder Umwelt-Schwierigkeiten führt".
Sam Lowe vom Brüsseler Thinktank Centre for European Reform schreibt in einem aktuellen Aufsatz, diese Entscheidung sei "unlogisch" gewesen: "Derzeit ist wegen der besseren Impfstoffbeschaffung und -anwendung im Vereinigten Königreich eher wahrscheinlich, dass Impfstoffe von dort über Nordirland in die EU eingeführt würden als andersherum. Schlimmer noch: Es war tollkühn." Letztlich werde das Protokoll damit gefährdet. Die EU-Kommission hat den Vorstoß nach scharfer Kritik aus London, aber auch von EU-Mitglied Irland, inzwischen kassiert.
Doch die Forderung der nordirischen Unionisten, das Protokoll platzen zu lassen, steht weiter im Raum. Wer das fordere, sei "komplett unrealistisch", sagte der irische Außenminister Simon Coveney am Mittwochmorgen im nationalen Fernsehen. "Irland, das Vereinigte Königreich und die EU haben eine gesetzliche Verpflichtung und ein internationales Abkommen, das Protokoll umzusetzen." Manche Leute versuchten, "die Geschichte umzuschreiben": "Das Protokoll ist nicht das Hauptproblem, sondern der Brexit, den das Vereinigte Königreich unbedingt wollte." Die Volte um den Artikel 16 habe die Situation um das Protokoll "stark verschlechtert", findet Coveney.
Auch Logistikexperte Ferris glaubt, das habe "nicht geholfen". Er gibt jedoch zu bedenken, dass die Kommission vermutlich am Widerstand der irischen Regierung gescheitert wäre: "Die Europäische Kommission macht Vorschläge, die vom Europäischen Rat unterstützt werden müssen - was er in diesem Fall nicht ohne weitere Vorkehrungen getan hätte."
Konsequenzen in den Häfen
Unterdessen klappt der Warenverkehr nach Nordirland trotz teilweise ausgesetzter Kontrollen offenbar reibungslos: "Zur Zeit läuft der Handel im Hafen von Belfast normal weiter", schreibt ein Hafensprecher auf DW-Anfrage. Wann die EU-Grenzbeamten ihre Arbeit wieder aufnehmen, ist noch nicht klar - die für Lebensmittelimporte zuständige nordirische Landwirtschaftsbehörde Daera teilt auf DW-Anfrage mit: "Die Abteilung steht weiter im Kontakt mit der Polizei und anderen Partnerorganisationen, um abzustimmen, wann physische Kontrollen wieder aufgenommen werden können. Jede Entscheidung wird auf Grundlage einer formalen Bedrohungsanalyse getroffen."
Die Versorgungslage in Nordirland hat sich seit dem Jahreswechsel trotzdem verschlechtert - immer wieder machen Fotos von halbleeren Supermarktregalen die Runde, weil Waren aus der EU nicht immer termingerecht geliefert werden. Wegen der Kontrollen nutzen unterdessen irische Lastwagen seltener die "Landbrücke" über Wales, England und den Ärmelkanal und nehmen stattdessen die längere Überfahrt direkt nach Frankreich in Kauf. Der irische Hafen Rosslare verbuchte im Januar auf der Strecke ein um 446 Prozent höheres Volumen als im Vorjahresmonat.
Ironischerweise ist auch das Frachtterminal in Belfast ein Nutznießer des Brexit: Laut einem Sprecher des schwedischen Fährbetreibers Stena Line schwenken einige Logistiker, die früher von Großbritannien nach Dublin übersetzten, auf die Fährroute nach Belfast um: "Wir wissen auch von Kunden aus der Republik Irland, dass sie nach Belfast übersetzen, selbst wenn sie Waren nach Südengland transportieren." Nordirland profitiere vom "ungehinderten Zugang zu Großbritannien", schreibt der Stena-Sprecher.
Das Bürokratie-Nadelöhr Nordirland scheint also bereits jetzt einen Umweg von Hunderten Kilometern aufzuwiegen. Dabei gelten derzeit noch vereinfachte Kontrollen, zunächst für drei Monate. Vor dem Hintergrund des aktuellen Streits brachte London bereits eine Verlängerung bis 2023 ins Spiel.