Individuelles Asylrecht stößt an Grenzen
12. Januar 2016DW: Herr Neudeck, der "Gutmensch" ist soeben als Unwort des Jahres gekürt worden. Wie definieren Sie den Begriff?
Neudeck: Ich war ganz überrascht, als ich den Begriff das erste Mal gehört habe. Da war ich noch ganz naiv und dachte, das heißt einfach "guter Mensch", das war in einem Fernsehstudio. Und dort sagte man mir, nein, das wäre ein großes Schimpfwort. Das ist eine interessante Entwicklung, die wir machen. Also offenbar gibt es in Deutschland so viele Menschen, die versuchen etwas Gutes zu tun, dass es gleichzeitig auch eine Gegenbewegung gibt. Wahrscheinlich eine Neidbewegung. So muss man das wohl sozialpsychologisch sehen. Journalistisch wird der Begriff ja eher negativ verwandt.
Acht bis zehn Millionen Afrikaner und Asiaten sind unterwegs nach Europa, sagt Entwicklungshilfeminister Müller. Ihr erklärtes Ziel ist Deutschland. Unser Asylrecht kennt keine Obergrenze und die Staatsgrenzen sind offen. Wie lange hält das Deutschland aus?
Wir werden diese Entwicklung natürlich nicht so zurückdrängen können, wie die Politik das wünscht, und ich halte es auch für eine wahnsinnig schwierige Aufgabe, weil vieles versäumt worden ist. Es sind in der Tat Millionen Menschen auf dem Wege, die eine Perspektive für ihr eigenes Leben haben wollen, die eine Ausbildung, eine Berufsausbildung haben wollen und die werden wir in Europa natürlich nicht alle unterbringen können. Deshalb wäre es gut, es würde Zwischenlösungen geben.
Welche zum Beispiel?
Um ein Beispiel zu nennen: In Nordafrika, in Marokko, in Algerien, in Ägypten hängen hunderttausende junge Afrikaner fest und wissen eigentlich nur, dass Sie warten können auf einen mörderischen Fluchtversuch über das Mittelmeer. Da wäre es möglich, durch eine groß angelegte Berufsausbildung diesen Menschen die Möglichkeit zu geben, später in ihr Heimatland wieder zurückzugehen. Das halte ich für den Königsweg im Moment in Bezug auf die Frage, wie können wir es schaffen, das nicht mehr alle unbedingt zu uns kommen.
Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, sieht die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so groß wie noch nie zuvor in der Bundesrepublik. Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?
Das weiß ich nicht, ob das so stimmt. Wir sind in einer großen nationalen Aufgabe, die uns manchmal wieder aus dem Blick gerät, weil die Parteien anfangen, wieder ihr Süppchen zu kochen, was etwas ganz Verhängnisvolles ist. Es ist eine nationale Aufgabe, mit der wir im letzten Jahr konfrontiert wurden und werden, und diese nationale Aufgabe, ganz gleich wie es der Politik gelingt, die Zahlen der Flüchtlinge zurückzufahren, diese nationale Aufgabe hat dieser Gesellschaft enorm viel Profil gegeben. Und das in einer Weise, wie ich das gar nicht für möglich gehalten habe. Wir haben hunderttausende, wahrscheinlich Millionen Menschen, die gerne bereit waren und sind, sich für Flüchtlinge einzusetzen und das gilt auch weiter. Ich halte das eher für ein ganz positives Signal, das wir nicht gering achten sollten.
Das deutsche Asylrecht ist ein individuelles. Es ist einzigartig und zieht gerade Millionen Menschen an. Ist es für die Ewigkeit geschrieben?
Nein. Ich glaube, das war eine wunderbare Sache, eine Großzügigkeitsadresse, so hat das damals Carlo Schmidt (SPD, Mitverfasser des Grundgesetzes) im parlamentarischen Rat gesagt, bei der Formulierung des Grundgesetzes an die ganze Welt. Das tat uns Deutschen damals verdammt gut, aber wir sehen jetzt, dass wir alleine mit dem individuellen Asylrecht, mit der Durcharbeitung aller individuellen Fälle, dass wir dabei alleine nicht weiterkommen.
Wir brauchen ein neues Recht und wir müssen auch sehen, dass das Asylrecht die Großzügigkeit ja verloren hat. Es darf ja keiner, wenn wir von ihm wissen, dass er in höchster Lebensnot ist, aus irgendeinem Land in Afrika oder der arabischen Welt in die deutsche Botschaft geholt werden und dann hierher gebracht werden. Das ist ja alles ganz unmöglich, und deshalb haben wir uns dieses Asylrecht ein bisschen klein geschnitten. Wir brauchen unbedingt ein produktives Einwanderungsgesetz, darauf warten wir in Deutschland schon 30 Jahre, und ich hoffe, dass es 2016 ein gutes, großzügiges Einwanderungsgesetz gibt.
Der Spiegel zitiert sie mit den Worten – ich verkürze jetzt: Die Flüchtlinge haben eine Bringschuld. Was genau müssen Flüchtlinge in Deutschland leisten, um ihre Integration zu fördern?
Das, was Menschen überall auf der Welt leisten, die für sich selbst und ihre Familie etwas erbringen müssen, die etwas einnehmen müssen, die den Boden bearbeiten müssen. Menschen müssen immer tätig sein, und das darf hier bei den Asylbewerbern und den Flüchtlingen nicht anders sein. Das darf kein "Dürfen" sein, sondern das muss ein "Müssen" sein. Deshalb denke ich, muss von Anfang an klar sein, dass das ganz große Geschenk der deutschen Gesellschaft darin besteht, dass jetzt hunderttausende, ja über eine Millionen Menschen jetzt bei uns unterkommen, versorgt werden, verpflegt werden, ein Kopfkissen haben. Dieses Geschenk muss sofort vom ersten Tag an beantwortet werden durch Verpflichtungen dieser Menschen in dem jeweiligen Asylheim, wenn es das denn ist oder wo auch immer Sie sich aufhalten. Sie müssen tätig sein können und müssen auch zur Tätigkeit verpflichtet sein. Im eigenem Heim bei der Reinigung des Raumes, bei der Toilettenreinigung. Sie müssen auch von Anfang an die Möglichkeit zu einer Arbeit haben, weil der Mensch davon lebt. Wenn wir das schaffen, dann haben wir gewonnen.
Rupert Neudeck, Journalist und promovierter Philosoph, ist der Gründer der Hilfesorganisation Cap Anamur und Vorsitzender des Friedenscorps Grünhelme.
Das Interview führte Volker Wagener.