NATO-Gipfel: möglichst geschlossen auftreten
28. Juni 2022NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat den NATO-Gipfel in Madrid wie immer vorbereitet. Eigentlich sollte es sein Abschiedsgipfel werden, doch wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine wird Stoltenberg länger im Amt bleiben müssen. Die 30 Alliierten wollen einen bewährten Chefdiplomaten an der Spitze der Allianz in Krisenzeiten. Der 63 Jahre alte Stoltenberg, der seit 2014 Generalsekretär ist, gibt einen klaren Kurs vor.
"Unser Gipfel in Madrid stellt eine Transformation mit wichtigen Entscheidungen dar. Es geht um ein neues strategisches Konzept für eine neue Wirklichkeit in Sicherheitsfragen, einen fundamentalen Wandel bei Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der NATO. Und wir unterstützen die Ukraine, jetzt und in Zukunft", sagte Jens Stoltenberg vor Beginn des Gipfels.
Den Streit zwischen dem NATO-Mitglied Türkei und den Beitrittsanwärtern Schweden und Finnland versuchen Stoltenberg und andere NATO-Diplomaten herunterzuspielen. Es wäre schön gewesen, wenn man Schweden und Finnland, die wegen der russischen Bedrohung um schnelle Aufnahme nachsuchen, schon in Madrid einladen könnte. Wenn das nicht passieren werde, sei das aber auch kein Beinbruch, heißt es aus der US-Delegation bei der NATO.
Man werde den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eher früher als später überzeugen, seinen Widerstand gegen Finnland und vor allem Schweden aufzugeben. Schließlich wollten die übrigen 29 NATO-Staaten den Beitritt der nordischen Staaten als Zeichen der Geschlossenheit. Erdogans Einwand, die beiden Bewerber würden kurdische Terroristen begünstigen, soll "ernst genommen werden”. Mehr aber auch nicht. Man arbeite fieberhaft an einer Lösung, versichert NATO-Generalsekretär Stoltenberg.
Aufrüsten an der Ostflanke
Schwerpunkt des Gipfeltreffens wird eher die Ostflanke sein. Seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine ist auch dem letzten NATO-Partner klar geworden, was schon seit Jahren bei Planungsrunden der NATO thematisiert wird. Die russische Bedrohung mit konventionellen Waffen ist größer als angenommen. Deshalb wird Russland im neuen strategischen Konzept auch nicht mehr Partner, sondern Gegner genannt.
Eine möglichst schnelle Verstärkung der "Ostflanke", also vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer, sei nötig, befanden vor zwei Wochen die Verteidigungsminister der NATO. Auf dem Gipfeltreffen in Madrid hofft NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf weitere Zusagen für Kampfbrigaden aus westlichen NATO-Staaten, die bei Bedarf in zuvor festgelegte Länder an der Ostflanke verlegt werden könnten. Das im Moment diskutierte Konzept sieht keine dauerhafte Stationierung von großen Kampfverbänden von mehreren Tausend Soldaten und Soldatinnen vor. Insgesamt, so rechnet Stoltenberg vor, könnten dann im Endausbau 300.000 Männer und Frauen als Einsatztruppe bereit stehen. Diese Kräfte werden aber nicht wirklich verlegt, sondern an ihren Heimatstandorten in erhöhte Bereitschaft versetzt, so dass sie zwischen zehn oder 30 Tagen im Baltikum oder sonst wo an der Ostflanke eingesetzt werden könnten.
Bundeswehr soll Kampftruppe für Litauen stellen
Die "robuste" Brigade, die der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in Litauen Anfang Juni angekündigt hat, wird normalerweise zur Hälfte in ihren Standorten in Deutschland bleiben und erst im Krisenfall tatsächlich nach Litauen verlegt. Die andere Hälfte (etwa 1500 Personen) soll rotierend in dem baltischen Staat präsent sein. Hinzu sollen noch 2000 Soldaten von anderen NATO-Verbündeten kommen, so dass die zusätzliche NATO-Brigade unter deutscher Führung etwa 5000 Kräfte umfassen soll. NATO-Generalsekretär Stoltenberg wünscht sich für den Gipfel in Madrid, dass das deutsche Bespiel "einer neuen Art der Truppengestellung" Schule macht und auch andere NATO-Nationen Kampf-Brigaden anderen Staaten an der Ostflanke fest zuordnen. Großbritannien, Frankreich, Dänemark und vielleicht auch Kanada könnten mit Zusagen aus der Deckung kommen, meinen NATO-Diplomaten, die das Treffen vorbereiten.
Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace machte beim Verteidigungsministertreffen in Brüssel vor zwei Wochen deutlich, dass Eile geboten ist. "Man hat keine 60 Tage, um die Panzer nach Estland zu schaffen. Nach diesem Zeitraum wird es bereits kein Estland mehr geben, wenn man sieht, was die Russen in der Ukraine machen." Bislang hatte die Allianz auf ihre "schnelle Eingreiftruppe" inklusive "Speerspitze” gesetzt, die aber nach den bisherigen Einsatzplänen bis zu 60 Tage brauchen würde, um im Einsatzgebiet anzukommen. Das soll nun wesentlich schneller gehen.
Voraussetzung dafür ist eine ordentliche Logistik, von der die NATO-Staaten aber noch weit entfernt sind. Die NATO hat 2018 ein eigenes Kommando, das "Joint Support und Enabling Command", in Ulm eingesetzt. Es ist damit beschäftigt, Transportrouten auszuarbeiten, Infrastruktur zu verstärken und bürokratische Hemmnisse abzubauen. Es fehlt an geeigneten Zügen, Brücken und Häfen, um schweres Kriegsgerät schnell vom Atlantik oder aus Deutschland in den Osten zu schaffen. Während des Kalten Krieges war solche Logistik vorhanden, doch sie wurde nach der Wende abgebaut, weil man die Bedrohung einfach nicht mehr sah. Bundeswehr-General Alexander Sollfrank, der das Kommando in Ulm leitet, will den Truppentransport schneller machen, damit glaubhafte Abschreckung funktionieren kann.
Dauerhafte Stationierung oder Rotieren?
Der Präsident von Litauen, Gitanas Nauseda, machte im Interview mit der DW vergangene Woche keinen Hehl daraus, dass er noch mehr Truppen in seinem Land wünscht. "Wir brauchen Soldaten im Land, weil das die beste Methode ist, um Russland abzuschrecken." Russische Truppen, so Nauseda, würden zunehmend in Belarus stationiert in unmittelbarer Nachbarschaft. "Natürlich haben wir keine Zeit zu reagieren und die NATO hätte sehr wenig Zeit zu reagieren”, meint der litauische Staatschef mit Blick auf die russische Strategie.
"Ich bin sehr glücklich, dass Deutschland entschieden hat, zusätzliche Kräfte zu schicken." Ihm wäre es aber lieber, wenn die Brigade dauerhaft in Litauen stationiert werden würde. "Wir werden bessere Bedingungen für die Soldaten schaffen, als sie sie in Deutschland haben. Militärisch gesehen ist es viel besser, die Aktionen vor Ort zu koordinieren, Schulter an Schulter zu stehen, zusammen zu trainieren und Manöver zu fahren, um die Fähigkeiten auf litauischem Boden zu verbessern."
Eine dauerhafte Stationierung gilt aber als zu teuer und auch als Verstoß gegen die letzten Reste der "NATO-Russland-Akte", einem Freundschaftsvertrag aus dem Jahr 1997, gegen den Russland mit seinem Angriffskrieg fundamental verstoßen hat. Trotzdem drängt Deutschland, anders als Großbritannien, darauf, dass die NATO den Vertrag nicht selbst aufkündigt.
Zusammenhalt in der NATO
In den letzten Monaten hatte die NATO ihre Präsenz an der Ostflanke bereits verstärkt. Die bereits bestehenden "battlegroups”, das sind Einheiten von 1000 bis 2000 Personen, wurden in Polen, Estland, Lettland und Litauen aufgestockt. In der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien wurden neue "battlegroups" gegründet, die nun langsam aufwachsen. Die NATO rechnet vor, dass wegen der russischen Bedrohung im März bereits wieder 100.000 US-Soldaten in Europa stationiert waren, fast 10.000 davon allein in Polen. 40.000 Soldaten und Soldatinnen stehen unter direktem NATO-Kommando.
Die relativ neuen NATO-Staaten an der Ostflanke drängen darauf, dass noch mehr US-Truppen dauerhaft stationiert werden. NATO-Diplomaten weisen darauf hin, dass man sich auch darauf vorbereiten müsse, dass die Unterstützung der NATO durch die aktuelle Biden-Administration schon wieder bald vorbei sein könnte.
Falls 2024 die Republikaner die Präsidentschaftswahlen gewönnen, womöglich Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrte, könnte es mit der neu belebten Solidarität wieder vorbei sein. Hinter den Kulissen des NATO-Gipfels wird der französische Präsident Emmanuel Macron, der die Allianz inzwischen nicht mehr für "hirntot" hält, dafür werben den europäischen Pfeiler der NATO zu stärken und "souveräner" zu machen.