Natascha Wodin auf außergewöhnlicher Spurensuche
21. März 2017Einfach ist es nicht, das Genre des Buchs "Sie kommt aus Mariupol" zu bestimmen. Die Leipziger Buchmesse definiert es als "Biographie mit fiktionalen Elementen". Man könnte noch hinzufügen: mit Elementen einer historischen Nachforschung. Das "Sie" im Buchtitel ist Wodins Mutter.
Natascha Wodin wurde im Dezember 1945 in Deutschland in einer Familie sogenannter "Ostarbeiter" aus der Ukraine geboren. Ostarbeiter waren vor allem Ukrainer aus den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten. Viele von ihnen wurden im Zweiten Weltkrieg zur Arbeit ins Dritte Reich angeworben, doch die meisten zur Zwangsarbeit verschleppt. Es waren Millionen von Menschen.
Wodins Mutter, Jewgenia Iwaschtschenko, lebte bis zum Zweiten Weltkrieg in Mariupol, an der Küste des Asowschen Meeres. Erst jetzt ist die Stadt in das Bewusstsein der Deutschen gerückt, da sie einer der Brennpunkte des Krieges im Osten der Ukraine ist. Jewgenia Iwaschtschenko war erst 23 Jahre alt, als sie und ihr viel älterer Mann im Dritten Reich ankamen. Unklar ist, ob sie der NS-Propaganda über "paradiesische Zustände für Ostarbeiter" in Deutschland gefolgt und freiwillig aufgebrochen waren, oder ob sie aus Angst vor einem Vorrücken der sowjetischen Roten Armee oder gar unter Zwang Mariupol verlassen mussten. Jewgenia Iwaschtschenko arbeitete während der deutschen Besatzung in Mariupol beim Arbeitsamt, was gewiss Repressionen seitens der Sowjets zur Folge gehabt hätte. Nach einer schweren psychischen Erkrankung beging Wodins Mutter im Oktober 1956 Selbstmord und hinterließ zwei kleine Kinder: Wodin war damals elf, ihre Schwester vier Jahre alt.
Aus dem dichtesten Dunkel
Natascha Wodin wusste wenig über ihre Mutter. So gut wie nie sprach Jewgenia Iwaschtschenko über ihr Leben im Dritten Reich. Aus Mariupol hatte sie eine alte kleine Ikone und drei Schwarz-Weiß-Fotos mitgenommen. Auf zwei von ihnen war sie selbst zu sehen, auf dem dritten der "Großvater und zwei Bekannte", wie Wodins Mutter auf die Rückseite des Fotos geschrieben hatte. Namen stehen dort keine.
Natascha Wodin befasste sich mit literarischen Übersetzungen aus dem Russischen und reiste in den 1970er und 1980er Jahren öfter in die Sowjetunion. Doch wie sie in ihrem Buch schildert, unternahm sie dabei keine Versuche, etwas über die Vergangenheit ihrer Mutter und somit auch über sich selbst zu erfahren. Erst vor kurzem beschloss die Schriftstellerin dies zu tun. Das Ergebnis ist ihr Buch "Sie kam aus Mariupol", dessen Hauptfigur Wodins Mutter ist.
Jewgenia Iwaschtschenko gehörte zu einer Generation, die ein sehr hartes Leben zu ertragen hatte. Ihre Biographie ist die einer ganzen Epoche: Bürgerkrieg, Hungersnot, Stalin-Terror, Krieg, Besatzung, Fremde... "Meine arme, kleine, verrückt gewordene Mutter, die aus dem dichtesten Dunkel des blutrünstigen 20. Jahrhunderts kam", schreibt Wodin über sie.
Tiefster Pessimismus
Es war eine unglaubliche Suche, aber eine Entdeckung brachte die nächste. Gefundene Verwandte gaben die Adressen anderer oder konnten zumindest deren Namen nennen. Es tauchten Fotos und alte Aufzeichnungen auf. Das Gewirr von Fäden, die ins 20. und 19. Jahrhundert zurückführen, wurde entknotet. Wodin fand heraus, wer die Personen auf dem Foto waren, das sie aufbewahrt hatte - um wessen Großvater es sich handelte und wer die beiden "Bekannten" waren. Auch stellte sich heraus, dass die vagen Kindheitserinnerungen über italienische Verwandte keine Träumerei, sondern Realität sind.
All dies ist sehr aufregend und sehr beängstigend zugleich. Aus dem dichtesten Dunkel der Vergangenheit traten verschiedene Personen und Schicksale zutage. Nicht nur zerstörte Häuser, getrennte Familien, Lager und Verbannung in der Stalin-Zeit sowie der Tod im Krieg, sondern auch ganz persönliche Tragödien: In der Verwandtschaft gab es bereits einen Selbstmord und Mord. Ein Mann tötete seine Mutter und verbrachte mehrere Jahre in einer psychiatrischen Anstalt.
Das ganze Buch "Sie kam aus Mariupol" ist von tiefem Pessimismus durchtränkt. Doch es geht nicht nur um das zerstörte Leben der Hauptfigur Jewgenia Iwaschtschenko und das vieler ihrer Verwandten, die in der Sowjetunion geblieben waren. Es geht auch um die Gefühle der Autorin selbst. Freude trifft man in dem Buch sehr selten an. Es ist sehr düster.
Da ist zum Beispiel die Erzählung vom Umzug in eine neue Wohnung in den frühen 1950er Jahren. Nach dem Krieg kam Wodin mit ihren Eltern in ein Lager für Displaced Persons. Dies waren Menschen, die nicht in die Sowjetunion zurückkehren wollten, weil dort auf viele "Ostarbeiter" Straflager warteten. Denn der Vorwurf lautete: "Kollaboration".
Nach den schrecklichen Bedingungen im Lager hätte die Zweizimmerwohnung mit Bad, Warmwasser und Küche am Stadtrand von Nürnberg in einer Siedlung für heimatlose Ausländer, wie sie damals genannt wurden, eigentlich wie das Paradies sein müssen. Aber nein. Wodin schreibt nichts Gutes über dieses "Ghetto", ganz im Gegenteil.
Außenseiter und Verstoßene
Kann man die Autorin dafür verurteilen? Wohl kaum. Wodins Kindheitserfahrungen sind ausschließlich negativ. Sie war eine Außenseiterin und wurde von den Kindern in der deutschen Schule gehänselt und drangsaliert. Für sie war sie die "Russin", eine Fremde, wenn nicht gar eine Feindin. Schutz und Geborgenheit hätte da nur die Familie bieten können. Doch Wodins Vater trank und schlug die Mutter, die nach und nach ihren Verstand verlor und irgendwann aufhörte, sich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern.
Mit dem Selbstmord der Mutter schließt die Erzählung, doch auch das weitere Schicksal der Autorin war nicht unbeschwert. Nach dem Tod ihrer Mutter kam sie in ein Waisenhaus, als Jugendliche war sie schwierig und lebte auf der Straße. Erst Anfang der 1970er Jahre begann sie, sich mit Sprachen zu befassen und arbeitete als Übersetzerin. In den 1980er Jahren erschienen ihre ersten Romane. Ihre Hauptthemen sind Entwurzelung und Fremdheit. Die Hauptfiguren sind Außenseiter und Menschen, die sich ausgestoßen fühlen. "Sie kam aus Mariupol" ist ein Buch genau in diesem Sinne.