Nach Protesten in Frankreich: Mit Kultur gegen Rassismus
27. Juli 2023Es war nur der Funke, der das Pulverfass zur Explosion brachte. Nachdem ein Polizist den 17- jährigen Nahel Ende Juni bei einer Verkehrskontrolle im Pariser Vorort Nanterre erschoss, kam es in Vorstädten im ganzen Land nächtelang zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Jugendlichen und der Polizei. Es brannten Autos, Mülltonnen und Rathäuser. Die Feuer sind inzwischen wieder gelöscht. Das Land will Zerstörtes schnell wieder aufbauen. Doch die Wunden sitzen tief bei denjenigen, die ihre Wut bei diesen oder auch vorherigen Unruhen zum Ausdruck brachten. Damit sie heilen können, muss der Staat grundlegende Reformen durchführen, sagen Kreative aus der Kulturszene. Kulturangebote könnten dabei zumindest ein Stück weit Linderung verschaffen. Diese Wunden spürt auch Abdelwaheb Sefsaf. Der 53-Jährige ist seit Anfang des Jahres Direktor des Theaters von Sartrouville und [dem Département] Yvelines, zehn Kilometer nördlich von Nanterre.
Frankreichs Kolonialzeit wie "schwarzes Loch"
Er ist Sohn eines algerischen Paares, das 1948, als Algerien noch ein französisches Département war, in ein sozial schwaches Viertel in der Nähe von Saint-Etienne in Südost-Frankreich zog. Sefsaf spricht von einem "tiefsitzenden, angeborenen Unwohlsein", das Menschen mit Wurzeln in ehemaligen französischen Kolonien verspüren. "Wir alle müssen mit diesem schwarzen Loch in unserer Geschichte leben, das wie ein Familiengeheimnis auf uns lastet", sagt er im DW-Interview. "Denn in Frankreich lehrt man viele dunkle Episoden der Kolonialgeschichte einfach nicht. Dadurch können auch Jugendliche in den Vorstädten ihre eigene Geschichte und Identität nicht genau definieren." Hinzu kämen Missstände wie hohe Arbeitslosigkeit, Diskriminierung und ein schlechter Zugang zum Bildungswesen in manchen Brennpunktvierteln. Da sei es nur normal, wenn es regelmäßig zu Aufständen käme.
Aufstände als Folge des unaufgearbeiteten Kolonialismus
Auch 2005 war das zum Beispiel der Fall, nachdem zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in einer Pariser Vorstadt zu Tode gekommen waren. "Denn auch wenn die jungen Leute sich dessen nicht bewusst sind, kämpfen sie täglich mit dem Trauma der Kolonisierung", erklärt Sefsaf. Der Regisseur hat seine eigene Form des Aufstands gefunden: Er inszeniert Teile der französischen Kolonialgeschichte, wie zum Beispiel die Deportation von mehr als 200 Algeriern in das französische Überseegebiet im Pazifik Neukaledonien 1871, nachdem sie sich gegen die französische Kolonialherrschaft aufgelehnt hatten. "Dies ist meine Art, den Schmerz zu lindern", sagt er. "Solche Theaterstücke können auch anderen helfen, mit dem Trauma umzugehen - wir Künstler können durchaus unseren Teil beitragen." Das macht Sefsaf auch, indem er Theater-Workshops in Schulen in den Vorstädten organisiert und Schauspieler seiner Stücke unter anderem aus den betroffenen Vierteln kommen. Und doch könne nur die Politik die Dinge grundlegend ändern, so Sefsaf. "Der Staat muss die Kolonialgeschichte ganzheitlich lehren - nur das kann die Kolonisierten und die Kolonialherren miteinander versöhnen, ohne dass die Unterdrücker unbedingt für immer den Weg der Buße gehen müssten", findet Sefsaf. Gleichzeitig müsse man mehr Geld in das Bildungswesen stecken, so dass es wirkliche Chancengleichheit gebe. "Wenn ein junger Mensch ein Diplom oder eine Ausbildung hat, weiß er, er hat eine Chance auf ein gutes Leben in Frankreich - es ist ein Mittel gegen die Verzweiflung, die viele verspüren", sagt er.
Rassismus in Frankreich gegen Migranten
Auch Benjamin Villemagne denkt, der Staat trage die Hauptschuld am Unbehagen vieler Vorstädtler. Er ist Direktor der Pariser Theatertruppe Quincaillerie Moderne und wie Sefsaf bei Saint-Etienne groß geworden. Der Sohn aus einer Arbeiterfamilie sagt, er selbst habe die "richtige" Hautfarbe. "Aber viele meiner Freunde aus arabischen oder afrikanischen Familien hat die Polizei ständig kontrolliert und so in ihrem Sein unterdrückt", meint Villemagne, der gar von staatlichem Rassismus spricht, zu DW. Für Villemagne muss der Staat nicht nur das Bildungswesen erneuern: "Wir brauchen auch tiefgreifende Reformen des Justizwesens und der Polizei, um endlich gegen diesen Riss in der Gesellschaft vorzugehen." Auch das Theater könne dabei eine Rolle spielen - allerdings müsse es sich grundlegend überholen. "Noch immer sieht man größtenteils klassische Stücke wie von Molière auf den Bühnen", sagt er. "Man sollte auch aktuelle Probleme wie die in den Vorstädten thematisieren und sie ins Zentrum des Aufmerksamkeit rücken."
Ständige Ausweiskontrollen, selbst im Zentrum von Paris
Ständige Polizeikontrollen hat der Musiker Kristo Numpuby hautnah erlebt. In Frankreich geboren verbrachte der Schwarze seine ersten 22 Jahre im westafrikanischen Kamerun, zog dann ins Zentrum von Paris, ins reiche 7. Arrondissement. "Einmal war ich zu spät zu einem Treffen mit meiner Schwester und rannte am helllichten Tag die Straße entlang. Da hat ein Polizeiauto kehrt gemacht und mich mit lauter Sirene verfolgt. Die Beamten haben mich brüsk angewiesen, meine Hände auf die Motorhaube zu legen, und mich durchsucht. Dabei hatte ich gar nichts getan", erinnert er sich im Gespräch mit DW. Heute gibt der 59-Jährige Musikunterricht im Konservatorium von Saint-Denis, im ärmsten Département Frankreichs bei Paris. Und er leitet Musikgruppen in Schulen, auch in sozial schwachen Gegenden. "Meine Schüler lernen, Musik aus aller Welt zuzuhören und sie zu spüren", sagt er. "Manche von ihnen sind nicht gut in der Schule, aber in diesen Workshops, gerade wegen ihrer Kultur, sieht man, dass sie einen Sinn für bestimmte Musik haben. Das gibt ihnen das Gefühl, auch etwas besonders gut zu können."
Musikworkshops, um Rassismus auszuhalten
Numpuby ist von den jüngsten Unruhen nicht überrascht. "Die beiden Seiten hören sich gegenseitig nicht zu. Einerseits geht die Polizei automatisch davon aus, dass die Jugendlichen immer etwas im Schilde führen. Andererseits haben aber auch Jugendliche in der heutigen schnelllebigen Welt nicht mehr die Geduld zuzuhören und reagieren auf Provokationen sofort", meint er. Gerade beim letzten Punkt könne die Musik helfen. "Durch sie bekommt man Abstand zu den Dingen. Sie hilft uns, Gefühle besser auszudrücken und zu kanalisieren – auch, weil sie uns Freude bereitet, die wie eine Schmerztablette wirkt", sagt er. "Außerdem muss man lange üben, um ein guter Musiker oder eine gute Musikerin zu werden. Diese Anstrengung, die Durchhaltevermögen verlangt, aber sich auch lohnt, gibt einem eine feste Struktur und eine Art von Sicherheit."
Musik als wichtiges Ausdrucksmittel gegen Rassismus
Ein Rettungsanker war die Musik in jedem Fall für Salomé Bossoku, in Frankreich geborene Tochter kongolesischer Einwanderer. Die nun 19-Jährige wuchs mit vier ihrer Geschwister und ihrer Mutter in Troyes auf, etwa 150 Kilometer südöstlich von Paris. Als einzige Schwarze fühlte sie sich früh isoliert in der Schule. "Seitdem ich vier Jahre alt war, wollte keiner mit mir spielen, weil ich nicht so aussah wie sie", erzählt sie DW. "In den Pausen war ich immer alleine, also setzte ich mich auf eine Bank und sang." Obwohl die Mutter sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, schaffte sie es doch - auch durch staatliche Subventionen -, Bossoku Musikunterricht im Konservatorium der Stadt zu ermöglichen. "Die Musik war und ist mein Lichtblick, die Quelle meiner Kraft. All die Traurigkeit, die Wut und den Eindruck, nicht verstanden zu sein, konnte ich nie in Worte fassen - ich bringe diese Gefühle beim Singen oder Klavierspielen zum Ausdruck", sagt sie. Bossoku findet, man solle mehr Jugendlichen die Möglichkeit zu regelmäßigem Musikunterricht geben: "Das würde ihnen einen anderen Weg zeigen, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen." Inzwischen studiert sie Design an einer Pariser Universität. Die Musik wird sie aber wohl ein Leben lang begleiten.