Martin Roth warnt vor einem Brexit
13. Juni 2016DW: Herr Roth, sorgt Sie die Vorstellung eines Brexit?
Martin Roth: Ja, absolut! Allein die Vorstellung, dass wir alles, was unsere Elterngeneration erreicht hat - Friedenspolitik, Versöhnung, gemeinsames Denken - einfach über Bord werfen. Eine ziemlich schreckliche Vorstellung!
Weltoffene Briten, die den EU-Ausstieg wollen, sehen Europa als "Nadelöhr" - viel zu klein, um darüber mit der Welt verbunden zu sein. Gilt das auch für die Kultur?
Keine einfach zu beantwortende Frage. Was ich weiß, nach fünf Jahren in London, wo ich mit offenen Armen empfangen worden bin, dass England eine absolut offene Gesellschaft ist - offen für neue Themen, für soziale Fragen, für weltweite Debatten. Das Land ist offen, war schon immer offen. Familien waren es über Jahrhunderte hinweg gewohnt, dass man in Indien lebt, in Neuseeland oder Kanada. Und nun soll man sich auf einmal über Brüssel dorthin orientieren? Das ist wohl die Frage, die viele umtreibt.
Und wenn Sie sich in der britischen Kulturszene umhören, wie ist die Stimmung vor dem Referendum?
In den kulturellen Kreisen gab es bisher so ein Ignorieren der ganzen Diskussion. Man wollte einfach nicht glauben, dass sie tatsächlich stattfindet. Für viele war es zu absurd, als dass man darüber nachdenkt. Jetzt gibt es dieses Schockelement, weil man merkt, dass viele Leute, mit denen man sich eigentlich gut versteht - Boardmitglieder oder Unterstützer der Kunst und der Kultur - sich plötzlich für einen Brexit stark machen. Das schockiert.
Ich kenne nur wenige in der Kulturszene, die für einen Brexit argumentieren. Aber viele Unterstützer und Sponsoren sind deutlich dafür. Das führt zu einer Art Schockstarre. Viele glauben immer noch, sie schrappen daran vorbei.
Rund 300 Kulturschaffende haben sich für einen Verbleib in der EU stark gemacht. Wäre denn ein Brexit so eine Katastrophe?
Kaum einer kann sich vorstellen, was das bedeutet. Vielleicht droht nicht eine unmittelbare Katastrophe für die Kultur, aber längerfristig schon.
Dieses emotionale Hineinstolpern in das Nichtvorhersehbare, das besorgt viele. Wir wissen gar nicht, wovon wir reden - von Steuern, oder von Zöllen, oder von Visa, oder von Arbeitserlaubnissen für Künstler in anderen Ländern? Muss man von Berlin ausreisen, wenn man englischer Künstler ist? Momentan sind das nur Horrorszenarien. Aber das Ganze ist von den Brexit-Befürwortern nicht im Geringsten durchgedacht. Es ist eine rein emotionale Debatte.
Sie selbst reagieren auch emotional. Was befürchten Sie persönlich?
Es ist ein Abschotten. Es geht um Abschottungspolitik. Man will sich von Europa distanzieren, auch um sich anderen Teilen der Welt leichter zuwenden zu können und sich nicht in die Europapolitik einmischen zu müssen - was ich persönlich für vollkommen falsch halte. Sie können nichts verändern, wenn Sie aussteigen!
Für die Kultur befürchte ich längerfristige Folgen. Wir sind auch in Zukunft noch Europäer hier, daran wird sich nichts verändern. Das ist die geographische, historische und kulturhistorische Dimension. Aber was bedeutet es für den Alltag?
Wir sind zutiefst europäisch und werden das bleiben. Großbritannien ist Teil der europäischen Geschichte, Identität und Kultur. Aber die Politik wird das erschweren. Die Politik wird sich abgrenzen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Kultur und Politik, das macht mir Sorgen.
Wer wären die Verlierer auf europäischer Seite?
Herr Dege, allein die Tatsache, daß wir über einen Brexit reden, ist schon eine Katastrophe. Schon allein, dass Sie mich das fragen müssen, ist eine Katastrophe. Dass es überhaupt zu so einer Debatte kommt, ist destruktiv und dass wir hier in England eine Position aufbauen, die sich gegen Europa ausdrückt.
Auch wenn Großbritannien die EU nicht verlassen sollte, wird die Diskussion weitergehen. Es ist eine polarisierende Diskussion, die niemandem nützt, anstatt sich auf Europa einzulassen, von Großbritannien heraus die EU zu verändern und zu reformieren, Europa schneller, besser und anders zu machen.
Ich bin 1955 geboren. Für mich ist Europa einfach Frieden. Ich wollte nicht Deutscher sein. Für mich war Europa immer Hoffnung auf eine bessere und friedensvolle Zukunft - Teilen, Solidarität, Toleranz. Ein Ausstieg bedeutet immer, sich von etwas abzugrenzen. Das macht mir Sorgen.
Hätten Sie Ihren Job am Victoria and Albert Museum auch nach einem Brexit erhalten? Was glauben Sie?
Ja, glaube ich. Ich mache mir keine Sorgen um die Offenheit Großbritanniens. Ich mache mir eher Sorgen um das, was sich inhaltlich verändert, die Identität im Land. Und ich glaube nicht, dass mir jemand einen Job nicht mehr anbieten würde. Die Frage ist eher, ob man einen Job dann noch nehmen will - unter diesen Bedingungen.
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Martin Roth, Jahrgang 1955, zählt zu den wichtigsten deutschen Museumschefs. Seit Herbst 2011 leitet er das Victoria & Albert Museum in London. Er war der erste Deutsche an der Spitze eines britischen Topmuseums.
Das Gespräch mit Martin Roth führte Stefan Dege.