Diagnose einer verunsicherten Allianz
14. Februar 2022Als langjähriger Diplomat ist Wolfgang Ischinger ein ebenso höflicher wie beherrschter Mensch. Und doch merkt man ihm an: Viel lieber würde er bei diesem virtuellen Pressegespräch über Einzelheiten der kommenden Münchner Sicherheitskonferenz reden, der letzten unter seinem Vorsitz. Aber die Journalisten fragen immer wieder nach etwas anderem: Ischingers Einschätzungen zur aktuellen Krise mit Russland.
Natürlich hat Ischinger auch da eine Menge zu sagen. Etwa, dass "wir in der Öffentlichkeit Verständnis dafür wecken müssen, dass Abschreckung Kriegsverhütung ist". Oder dass er es erfreulich findet, dass Europa wieder eine Rolle spielt in dem intensiven diplomatischen Diskurs – nachdem es "zunächst so aussah, als wäre Europa ein Beobachter am Spielfeldrand, während andere über die Krise und die Möglichkeit ihrer Beilegung reden".
"Multiple krisenhafte Entwicklungen"
Aber Ischinger und sein Team beschäftigt nicht allein die aktuelle Krise um die Ukraine. Zurückblickend auf seine 14 Jahre als Leiter der Sicherheitskonferenz konstatiert Ischinger: "Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals eine so multiple krisenhafte Entwicklung hatten". Es gebe auch das Iran-Thema, die Frage des richtigen Umgangs mit China, Fragen der künftigen euro-atlantischen Sicherheitsordnung, Fragen des Umgangs mit dem Partner USA angesichts ungewisser US-Wahlen, zählt der Diplomat nur einige Baustellen der Weltpolitik auf.
Die Fülle der gleichzeitig zu bewältigenden Krisen bildet das Thema des Munich Security Reports. Dieser Sicherheitsbericht wird immer einige Tage vor der Zusammenkunft im Bayerischen Hof in München veröffentlicht; er bereitet den geistigen Boden vor, setzt die Agenda. In diesem Jahr ist der Bericht mit dem Titel "Turning the Tide, Unlearning Helplessness" überschrieben – zu deutsch etwa: "Den Lauf der Dinge ändern, Hilflosigkeit ablegen".
Gefühl "kollektiver Hilflosigkeit".
Der Bericht diagnostiziert ein Gefühl "kollektiver Hilflosigkeit". Ebenso wie einzelne Menschen könnten ganze Gesellschaften von dem Eindruck befallen werden, die Herausforderungen nicht bewältigen zu können, die sich ihnen stellen.
"2021 war eindeutig kein Jahr des geopolitischen Optimismus. Nahezu monatlich beherrschte eine neue Krise die Nachrichten, und trug zu dem Gefühl bei, dass die zunehmende Flut von Krisen uns zu überwältigen droht", begründet der Bericht die Stimmungslage – für die besonders liberale Demokratien anfällig seien. Das Gefährliche an dieser Gefühlslage laut Sicherheitsbericht: Sie berge die Gefahr, dass die Welt die Herausforderungen der Menschheit nicht annehme, obwohl die Ressourcen, Strategien und Instrumente zu ihrer Bewältigung vorhanden seien.
Ulrike Franke liest den Bericht als Aufforderung an den Westen, die Problematiken der Welt wieder mehr in den Griff zu bekommen. Die Sicherheitsexpertin bei dem Europäischen Think-Tank European Council on Foreign Relations, ECFR, erklärt im DW-Interview, der Befund der "Hilflosigkeit" schließe an den Sicherheitsbericht von 2020 an, der "Westlessness" zum Thema hatte. Mit diesem später viel zitierten Kunstwort wurde schon vor zwei Jahren ein weitverbreitetes Gefühl des Unbehagens und der Rastlosigkeit beschrieben angesichts wachsender Unsicherheit über Zukunft und auch Bestimmung des Westens.
Die aktuelle Stimmung einzufangen und begrifflich auf den Punkt zu bringen - diese Fähigkeit schätzt Franke an den Münchner Sicherheitsberichten besonders. In den aktuellen Bericht etwa flossen die Befragungen von 12.000 Menschen weltweit zu ihrer Risikowahrnehmung ein. Mit spannenden Ergebnissen: In Deutschland etwa steht ganz oben auf der Bedrohungsliste der Klimawandel und mit ihm verbundene Extremwetterereignisse; in den USA sorgt man sich vor allem wegen möglicher Cyberangriffe; in China sehen die Menschen Bedrohungen aus den USA als größtes Risiko; in Russland blickt man nach innen und fürchtet an erster Stelle wachsende Ungleichheit. Und Indien ist das einzige Land, wo der Einsatz von Atomwaffen durch einen Gegner die größte Sorge ist.
Sicherheitsexpertin Franke bezeichnet sich selbst als "Riesenfan" der Umfragen, Statistiken und Graphiken im Security Report. Und spricht ihm großen Einfluss auf die sicherheitspolitische Debatte insgesamt zu.
Von Afghanistan bis zu Lieferketten
Angesichts ihrer Beschäftigung mit Krisen und Bedrohungen liegt es wohl in der Natur von Sicherheitsberichten, dass sie nicht eben von Optimismus geprägt sind. Schon der erste war vor sieben Jahre überschrieben mit "Collapsing Order, Reluctant Guardians", was man mit "Zusammenbrechende Ordnung, zögerliche Hüter" übersetzen konnte. Und so wie die Krisen gewachsen sind, ist auch ihr Umfang gewachsen: Von überschaubaren 72 Seiten 2015 auf mehr als das doppelte. Der jüngste Bericht umfasst 182 Seiten.
Die greifen neben der weltweiten Risikowahrnehmung und der Ukraine-Krise noch einen ganzen Strauß von Krisen und deren Folgen auf: Etwa den chaotischen Abzug aus Afghanistan, die sich verschlechternde Sicherheitssituation in Mali und der gesamten Sahel-Region, die Destabilisierung am Horn von Afrika und am Arabischen Golf, wachsende Ungleichheit in der Welt und brüchige Lieferketten im Technologiebereich.
Diese Themen werden sich auch bei der Sicherheitskonferenz selbst wiederfinden. Sie wird in diesem Jahr trotz Corona-Pandemie wieder als Präsenzveranstaltung stattfinden. Unter "extrem restriktiven Bedingungen, als reine Arbeitskonferenz", wie Wolfgang Ischinger betont. "Der Bedarf nach bilateralen informellen Begegnungen zu zweit oder in kleinem Kreis ist enorm gewachsen. Nicht nur wegen der Krise, sondern auch wegen der langen Monate, in denen solche Begegnungen nicht stattgefunden haben", stellt der Sicherheitskonferenzchef fest.
Ischinger rechnet damit, im Bayerischen Hof in München 35 Staats- und Regierungschefs und rund 100 Minister zur Konferenz zu begrüßen, vor allem Außen- und Verteidigungsminister. UN-Generalsekretär Antonio Guterres wird sprechen; Bundeskanzler Olaf Scholz und zahlreiche Kabinettsmitglieder werden anreisen; Nato-Generalsekretär Stoltenberg wird kommen und die Top-Repräsentanten der EU; traditionsgemäß wird eine große US-Delegation erwartet, diesmal angeführt von Vizepräsidentin Kamala Harris. Der chinesische Außenminister lässt sich per Video zuschalten. Und auch sonst würden eine "ganze Reihe von hochrangigen Teilnehmern aus dem außereuropäischen Ausland erwartet."
Moskau sagt ab
Auch Wladimir Putin sei angefragt worden, habe aber absagen lassen, erklärte Ischinger. Überhaupt würden aus "verschiedenen Gründen" keine russischen Beamten an der Sicherheitskonferenz teilnehmen, stellte am vergangenen Mittwoch die Sprecherin des russischen Außenministeriums bei einer Pressekonferenz klar.
Immerhin hätten einige Abgeordnete der Duma ihr Kommen angekündigt, ließ Konferenzleiter Ischinger wissen. Auch Vertreter aus der Wirtschaft und von Nichtregierungsorganisationen würden erwartet.
Als Diplomat ist Ischinger gewissermaßen Berufs-Optimist. Und so hatte er auch am Montag die Hoffnung noch nicht aufgegeben, "dass wir am Wochenende in München nicht nur über Russland, sondern auch mit Russland sprechen können". Er sei auch "in diesem Augenblick daran interessiert einen russischen Sprecher in München zu haben und mit ihm die aktuelle Lage zu diskutieren".
Vielleicht aber bleibt es bei der russischen Absage. Das wäre eine verpasste Gelegenheit zum Gespräch. Und es würde die Erfüllung des großen Wunsches von Wolfgang Ischinger an die letzte von ihm geleitete Sicherheitskonferenz in Frage stellen: Dass "zumindest ein paar Impulse gesetzt werden könnten, um die Ukraine-Krise einer diplomatischen Entspannung zuzuführen".
Der Beitrag wurde am 14. Februar aktualisiert.